Unconscious Bias
Von Dominik Josten · 18 Minuten Lesezeit
Wir entscheiden selten rein rational. Vielmehr leiten uns häufig Wahrnehmungsverzerrungen, die sogenannten Unconscious Biases – mit fatalen Folgen in HR.
Was verstehen wir unter einer Wahrnehmungsverzerrung?
Rationalität ist eine Illusion. Selbstverständlich handeln und urteilen wir nicht ständig nach Lust und Laune. Aber wenn wir vermeintlich objektiv-rational entscheiden, spielt unsere Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Alle Menschen nehmen allerdings verzerrt wahr. Das wird schon an einem einfachen Beispiel klar: Wer es nicht gewohnt ist, eine Aufnahme der eigenen Stimme zu hören, ist erst einmal irritiert. Wir hören die eigene Stimme tiefer, weil wir quasi im Resonanzkörper sitzen. Ohne diesen Resonanzkörper – also für alle, die uns hören – klingt sie einfach ein bisschen höher.
So weit, so harmlos. Was aber, wenn wir beispielsweise Menschen, die uns ähnlich sind oder mit denen uns ein gemeinsames Hobby verbindet, mehr zutrauen als anderen? Unconscious oder Implicit Biases, Wahrnehmungsverzerrungen, stellen im Personalbereich ein echtes Problem dar, weil sie systematisch zu sachlich nicht gerechtfertigten Entscheidungen führen. Sie bringen die Gefahr mit sich, Bewerbenden und Mitarbeitenden entweder nicht gerecht zu werden oder sie unbegründet zu bevorzugen. Häufig prägen Assoziationen unser Bild von Menschen und nicht das, was wir tatsächlich über sie wissen.
Die Kognitionspsychologie ist diesem Phänomen schon lange auf der Spur. Ein breites Echo erfuhr das 2011 erschienene Buch „Schnelles Denken, langsames Denken” („Thinking, Fast and Slow“). Darin fasst der Psychologe Daniel Kahneman die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschung mit seinem bereits 1996 verstorbenen Freund und Kollegen Amos Tversky zusammen. Er führt aus, dass Menschen in zwei unterschiedlichen Systemen denken:
- Das System 1 verarbeitet Informationen sehr schnell. Es ist immer aktiv, bewertet intuitiv. Emotional und unbewusst nimmt es sehr viele Informationen parallel auf und ordnet sie in Schubladen ein, reproduziert also Stereotype.
- Das System 2 beinhaltet das rationale, bewusste Denken. Es ist viel, viel langsamer, wird als anstrengend empfunden und kann nur einen winzigen Bruchteil der ständig auf uns einprasselnden Eindrücke verarbeiten. Selektiv denken wir mit System 2 einen Gedanken nach dem anderen.
Weshalb wären wir ohne Intuition und damit Unconscious Biases aufgeschmissen?
System 1 ist bis heute für uns Menschen lebenswichtig. In Gefahrensituationen – beispielsweise, wenn ein Auto auf uns zukommt – bringen wir uns intuitiv in Sicherheit. Einige wenige Informationen reichen dem schnellen Denken – die Ratio kommt erst hinterher, wenn die Gefahr bereits gebannt ist oder wir feststellen, dass wir überreagiert haben. Wir nehmen im Alltag ständig gedankliche Abkürzungen, weil System 2 der Menge an Sinneseindrücken und Informationen schlicht nicht gewachsen ist.
Das gilt auch für den Arbeitsalltag:
- Das Smartphone klingelt. Wir greifen danach.
- Zwei Mitarbeitende betreten gleichzeitig die Kantine: „Bitte nach Ihnen.“
- Sie treffen Bewerbende das erste Mal. Noch bevor Sie die ersten Worte gewechselt haben, machen Sie sich ein Bild.
Ohne System 1 und die damit verbundenen gedanklichen Kurzschlüsse können wir nicht leben, weil System 2 so langsam ist, dass wir keine einzige Handlung ausschließlich über unser bewusstes Denken steuern könnten. Da wir außerdem vieles gleichzeitig koordinieren müssen und System 1 linear sowie in der Informationsverarbeitung sehr limitiert ist, funktionieren beide Arten zu denken nur im Zusammenspiel.
Unconscious Bias: Was bedeutet es für HR, dass wir nie objektiv wahrnehmen?
So sinnvoll die Kombination von schnellem und langsamem Denken auch ist, es birgt für HR hohe Risiken, denn es führt dazu, dass Menschen verzerrt bewertet werden. Sie können ungerechtfertigt bevorzugt oder auch benachteiligt werden, weil Personaler Menschen unbewusst in Schubladen einordnen. Wie diese genau beschaffen sind, unterscheidet sich von Bewertendem zu Bewertender. So gibt es etwa einen Beauty Bias (siehe unten). Dabei handelt es sich um die Annahme, dass gut aussehende Menschen per se einen Vorteil haben. Auf der anderen Seite können sich viele sicher noch an Blondinenwitze in zig Varianten entsinnen, die suggerieren, dass blonde Frauen dumm sind. So oder so: Auf der rationalen Ebene ist uns allen klar, dass es zwischen äußerer Erscheinung, Leistungsfähigkeit und Intelligenz keinen Zusammenhang gibt. Dennoch können uns entsprechende Biases unbewusst beeinflussen. Immer, wenn sich Personalerinnen ein Bild von Menschen machen, lauert die Gefahr, Unconscious Biases auf den Leim zu gehen.
Helfen Unconscious Bias Trainings?
Leider reicht es nicht aus, sich die Gefahren und die verschiedenen Wahrnehmungsverzerrungen bewusst zu machen, denn sie „überholen“ das rationale Denken im Zweifelsfall. Fachleute sind sich einig, dass ein Umdenken in Form einer Umprogrammierung nicht funktioniert. Allerdings müssen Sie, die Führungsetage und Ihre Mitarbeitenden den Gegner zumindest gut kennen, um sich ihm entgegenzustellen. Wenn Sie mehr über Ihre eigenen blinden Flecken erfahren und ein Gefühl für Biases bekommen wollen, können Sie einen impliziten Assoziationstest (IAT) [1] machen.
Ferner sind Unconscious-Bias-Schulungen weit verbreitet. Sie können sinnvoll sein, wenn sie von strukturellen Änderungen begleitet werden. Setzen Sie allerdings nur auf der individuellen Ebene an, also bei den einzelnen Mitarbeitenden und Führungskräften, wird Ihr Unternehmen weiterhin vor irrationalen Entscheidungen nicht gefeit sein. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Trainings als folgenlose Imagemaßnahme abgetan werden und Ihrem Ruf als Arbeitgeber wenig nützen. Zudem laufen Sie Gefahr, sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen und Ungleichbehandlung in Ihren eigenen Reihen zu übersehen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Fehlentscheidungen können so diffuse Gründe haben, dass der Schaden schwer zu begrenzen ist. Trainings und die interne Kommunikation sollten das Bewusstsein für das Risiko schärfen, unbewusst zu bevorzugen oder zu benachteiligen:
- Ihre Mitarbeitenden sind begeistert: Der neue Kollege ist Leistungssportler. Sicher wird er das ambitionierte Programm zur Führungskräfteentwicklung diszipliniert vorantreiben. Davon ist allerdings in den nächsten Wochen wenig zu sehen, denn er hat eigentlich nur seinen Sport im Sinn.
- Diesen Kandidaten hat eine Kollegin empfohlen. So richtig überzeugt waren Sie nicht, aber bisher konnten Sie sich immer auf die Einschätzung der Kollegin verlassen. In diesem Fall haben Sie sich einen Flop ins Team geholt.
- Grandios, wie Frau Schneider mit ihren kenntnisreichen Verbesserungsvorschlägen die Produktqualität lange Jahre geprägt hat. Zum Dank für ihre Loyalität befördert der Geschäftsführer sie zur Abteilungsleiterin. Aber wie soll sie diese Rolle ausfüllen? Insgeheim sehnt sie sich in ihr stilles Kämmerlein zurück.
Im Recruiting können Sie Unconscious Biases begegnen, indem Sie Bewertungskriterien und -verfahren sorgfältig festlegen. Für die
- Auswahl
- Planung,
- Durchführung
- und Auswertung
berufsbezogener Eignungsdiagnostik wurde der Standard DIN 33430 entwickelt. Es empfiehlt sich, einige Mühe darauf zu verwenden, die Eignungsdiagnostik so neutral wie möglich zu gestalten. Dazu trägt auch bei, Entscheidungen in divers besetzten Teams zu treffen.
Wie viele Wahrnehmungsverzerrungen gibt es?
Der Cognitive Bias Codex [2] listet mehr als hundert Wahrnehmungsverzerrungen auf – bis hin zu fragwürdigen Phänomenen wie dem IKEA-Effekt, der besagt, dass Menschen an Dingen stärker hängen, wenn sie diese selbst zusammengebaut haben. Forscherinnen und Forscher haben unzählige Wahrnehmungsverzerrungen beschrieben und benannt. Vieles überschneidet sich, anderes lässt sich empirisch nicht nachweisen. Sehr ähnliche Phänomene werden, dem Studiendesign entsprechend, unterschiedlich interpretiert. Was der Auslöser für das Phänomen ist, bleibt in diesen Fällen strittig. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die bekanntesten Unconscious Biases und ihre Auswirkungen auf HR – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Wahrnehmungsverzerrungen in HR
Vom Confirmation Bias haben Sie vielleicht schon einmal gehört, vom Halo-Effekt möglicherweise auch. Aber was hat es mit dem Decoy- oder dem Endowment-Effekt auf sich? Hier finden Sie häufig genannte Wahrnehmungsverzerrungen in alphabetischer Reihenfolge, ihre Auswirkungen auf Personalprozesse und, was Sie dagegen tun können.
Affinity Bias
Der Affinity Bias ist auch unter den Namen Similarity und Conformity Bias bekannt. Die Forschenden beschreiben damit das Phänomen, dass wir Menschen, die uns äußerlich ähneln oder mit denen uns etwas verbindet, unbewusst bevorzugen. Dabei kann sich die Übereinstimmung auf unterschiedliche Bereiche beziehen:
- körperliche Merkmale,
- Hobbies, Interessen und Vorlieben,
- die „Chemie“ stimmt (wir haben also beispielsweise einen ähnlichen Humor),
- biografische Übereinstimmungen: Herkunft, Studium an derselben Hochschule usw.
Und umgekehrt: Können wir bereits im Vorstellungsgespräch so gar nichts mit einer Kandidatin anfangen, regen sich schnell Zweifel, ob sie überhaupt ins Unternehmen passt. Eine australische Studie ist zu dem Schluss gekommen, dass der Affinity Bias knapp 80 % der Bewerbungsverfahren beeinflusst.[3] Die Dynamik wirkt sich auch auf die Karriere aus: Wer uns wegen Übereinstimmungen vertraut ist, dem trauen wir auch mehr zu. Hinzu kommt, dass wir unbewusst Informationen stärker aufnehmen, die unser Bild bestätigen (vergleiche Confirmation Bias). Eine gewisse Vielfalt in die Belegschaft zu bringen, ist also gar nicht so leicht.
Andorra-Effekt
Das gleichnamige Theaterstück von Max Frisch gibt dem Andorra-Effekt seinen Namen. In dem Stück geht es um antisemitische Vorurteile. Der zentrale Punkt: Unabhängig von der Identität (in diesem Fall der jüdischen) passen sich Menschen an Vorurteile an, die ihnen entgegengebracht werden. Spiegelt die Umwelt einem Kind beispielsweise permanent, dass es weniger begabt als der größere Bruder ist, wird es sich mit der Zeit immer weniger zutrauen – völlig unabhängig davon, was in ihm steckt. Umgekehrt: Wird eine mittelmäßige Musikerin im neuen Ensemble von allen über den grünen Klee gelobt, wächst sie über sich hinaus – so zumindest der Andorra-Effekt.
Anders als viele andere Bias-Theorien können Sie sich diese im Personalwesen auch positiv zu eigen machen. Wenn Sie gemeinsam mit Ihren Führungskräften eine wertschätzende Unternehmenskultur etablieren, werden auch die schwächeren Mitarbeitenden mehr leisten, als Sie ihnen sonst zugetraut hätten. Auf der anderen Seite weist der Andorra-Effekt darauf hin, wie verheerend sich Vorurteile auf Betroffene auswirken. Sie leiden nicht nur darunter, unterschätzt zu werden, sondern trauen sich bald selbst den nächsten Schritt auf der Karriereleiter nicht mehr zu, ja, bringen möglicherweise sogar gar nicht mehr die Leistung, zu der sie anfangs in der Lage gewesen wären.
Beauty Bias
Unterbewusst wirkt die wuchtige Erscheinung des Kandidaten fast bedrohlich auf Sie und irgendetwas stört Sie an seinen Gesichtszügen. Das erinnert Sie an die langhaarige, zierliche Kollegin. Gestern hat sich bereits die dritte Mitarbeiterin über sie beschwert. Sie verbreite schlechte Stimmung und spiele die Teammitglieder gegeneinander aus. Das hätten Sie ihr nicht zugetraut. Sie dachten, die könne keiner Fliege etwas zuleide tun.
Das Äußere einer Person beeinflusst das Bild, das wir uns von ihr machen. Dabei ist uns ein gefälliges Äußeres möglicherweise in die Wiege gelegt, gewiss aber nicht, wie gut wir Entgelte berechnen und Recruiting-Maßnahmen orchestrieren können. Mit anderen Worten: Unser Aussehen sagt rein gar nichts über unsere berufliche Qualifikation und Soft Skills aus. Dennoch weisen Studien[4] nach, dass sich Körpermerkmale auf das Einkommen auswirken.
Bei Männern wirkt sich die Größe, bei Frauen das Gewicht am meisten aus: „Die Forscher der Studie fanden heraus, dass Frauen, die ein Jahreseinkommen von 70.000 Dollar haben, für jeden BMI-Punkt weniger 934 Dollar mehr Gehalt erhalten. Männer mit einem Jahreseinkommen von 70.000 Dollar würden bei jedem Zentimeter an Körpergröße 998 Dollar zusätzlich verdienen.“[5]
Confirmation Bias
Der Confirmation Bias, auch Bestätigungs-Bias, ist uns allen als Phänomen vertraut: Wir lassen uns schwer von der Meinung abbringen, die wir uns einmal gebildet haben. Deshalb nehmen wir Informationen, die diese bestätigen, eher wahr als andere Informationen: Wenn sich der in der Schülervertretung engagierte Neffe und der Onkel, der im Ortsverein seiner Partei aktiv ist, ein und denselben Newsfeed anschauen, werden ihnen unterschiedliche Nachrichten ins Auge fallen.
Bezogen auf HR bedeutet dieses gut erforschte Phänomen, dass Sie auch bei der Personalauswahl und -beurteilung nicht davor gefeit sind, Informationen unterschiedlich zu gewichten:
- Ihrer Erfahrung nach sind Frauen in MINT-Fächern weniger begabt als Männer? Dann sehen Sie eher die Defizite im Profil der Bewerberin für die IT-Abteilung und gewichten ihre Leistungen nicht so stark.
- Sie haben sich das Bild gemacht, dass Frau Özil einfach eine Überfliegerin ist? Sie nehmen kritische Rückmeldungen aus der Abteilung nicht so ernst, weil sie einfach nicht in Ihr Bild passen.
Curse of Knowledge
Auch den „Fluch des Wissenden“, den Curse of Knowledge, finden wir in der Literatur. Demnach gehen wir davon aus, dass andere, das, was wir wissen, selbstverständlich auch wissen. Wir machen uns nur unzureichend klar, dass ihr Wissensstand – also der Punkt, an dem wir sie abholen müssen, – ein ganz anderer sein kann. Mit dieser Wahrnehmungsverzerrung lässt sich erklären, weshalb wir uns oft schwertun, uns wirklich auf Augenhöhe zu begeben:
- Wie konnte dem Neuen bei der betriebsbedingten Kündigung so ein Fehler unterlaufen? Hätten Sie die Unterlagen nicht noch einmal durchgeschaut, wäre es sicher teurer geworden. Aber woher hätte er eigentlich wissen sollen, worauf in diesem speziellen Fall zu achten war? Er ist schließlich noch in der Probezeit.
- Ein anderes Beispiel: Die Abteilungsleiterin kreidet den Kolleginnen an, die DSGVO-konformen Prozesse im Umgang mit Bewerbungsunterlagen nicht einzuhalten. Denkbar, dass der definierte Ablauf nur in ihrem Kopf existiert und nirgendwo hinterlegt ist. Wüssten die Mitarbeiterinnen was zu tun ist, hätten sie eine Chance, es richtig zu machen.
Dunning-Kruger-Effekt
Allgemein anerkannt ist der Dunning-Kruger-Effekt. Er besagt, dass Menschen, die in einem bestimmten Bereich schlechte Leistungen erbringen, ihre Kompetenz vollkommen falsch einschätzen. Weshalb das so ist, lässt sich an einem einfachen Beispiel erklären: „Die Fähigkeit, einen Satz richtig zu schreiben, ist die gleiche, wie die Fähigkeit zu erkennen, ob ein Satz richtig oder falsch geschrieben ist. Das bedeutet nach David Dunning, dass das Wissen, das man benötigt, um ein richtiges Urteil zu fällen, das gleiche Wissen ist, das man benötigt, um zu erkennen, ob ein Urteil richtig oder falsch ist.“[6]
Dieser Bias, die verzerrte Wahrnehmung der eigenen Leistungsfähigkeit, verschlimmert Defizite. Im Personalbereich wäre es wichtig, solche blinden Flecken bei Mitarbeitenden zu erkennen und ihnen zu einem realistischen Selbstbild zu verhelfen. Im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, beispielsweise in Nachwuchs- und Talentprogrammen, können sie ein besseres Gefühl für ihre Kompetenzen bekommen.
Leider sind auch Personaler und Führungskräfte nicht vor Dunning-Kruger gefeit. Nehmen wir an, dass in einem Unternehmen besonders viele Kandidatinnen nach dem zweiten Bewerbungsgespräch abspringen. Der Grund: Die Abteilungsleiterin tritt sehr forsch auf, redet mehr von sich als zuzuhören und stellt von vorneherein klar, was sie von der neuen Kollegin erwartet und was gar nicht geht. Im Job kommt sie mit ihrer direkten Art gut zurecht, aber Bewerbende schreckt sie ab. Da sie keine Vorstellung davon hat, wie man potenzielle Mitarbeitende für das Unternehmen einnimmt und gewinnt, reflektiert sie ihr Verhalten nicht und kann es folglich auch nicht ändern. Hier sind Sie als Personalerin sowie die Kolleginnen und Kollegen gefragt. Eine gesunde Feedbackkultur hilft gegen den Dunning-Kruger-Effekt.
Endowment-Effekt
Dem Endowment-Effekt, auch Besitztumseffekt, wird eine soghafte Wirkung zugesprochen. Gemeint ist das Phänomen, dass wir uns von Dingen, die wir besitzen, der Position, die wir erreicht haben, nur ungern trennen. Das soll etwa auch die Erklärung dafür sein, dass Aktien oft zu spät verkauft werden: Aus Angst davor, die Aktie abzustoßen, nehmen wir monetäre Verluste in Kauf. Ein ähnliches Phänomen beschreibt die Verlustaversion (Loss Aversion).
Das Phänomen erklärt, weshalb Arbeitnehmer sich mit ihrer aktuellen Position zufriedengeben und Veränderungen kritisch sehen. Der Endowment-Effekt erklärt auch, weshalb es schwierig ist, Mitarbeitende abzuwerben. Wenn sie nicht unzufrieden sind, müssen Sie die Personen schon sehr locken, um ihnen eine neue, unbekannte Stelle schmackhafter zu machen als den bekannten und geschätzten aktuellen Arbeitsplatz. Außerdem legt der Effekt nahe, dass sich Mitarbeitende mit einem guten Arbeitsklima und Benefits gut binden lassen – was man hat, hat man schließlich.
Halo-Effekt
Dieser bekannte und gut erforschte Unconscious Bias setzt Betroffenen einen Heiligenschein (englisch „Halo“) auf. Wir generalisieren positive Erfahrungen, die wir mit einem Menschen gemacht haben. Nun sehen wir alles, was die Person betrifft, durch eine rosa Brille. Der Lorbeer-Effekt ist eine Variante des Halo-Effekts. Hier geht es nicht um das allgemeine Bild, sondern um eine herausragende Leistung: Der Fußballer, der die Mannschaft zum Meister geschossen hat, bleibt auch dann der Held, wenn er in den kommenden Partien keine Tore macht.
Als Personalerin könnten Sie prüfen, ob die Leistungen der letzten Monate eine Beförderung wirklich rechtfertigen. Möglicherweise passt der junge Kollege aus der Nachbarabteilung besser zu der Stelle und ihm fehlt nur der positive Ruf, der der langjährigen Kollegin vorauseilt. Ist einem Niederlassungsleiter vor einigen Jahren ein herausragender Abschluss geglückt, heißt das noch nicht, dass er ein Vertriebsgenie ist (Lorbeer-Effekt). Seine aktuellen Leistungen sollten mit denen der Kolleginnen und Kollegen verglichen werden, um sie realistisch zu beurteilen.
Hierarchie-Effekt
Wer die ersten Sprossen der Karriereleiter einmal hinaufgeklettert ist, hat in der Regel bessere Karten als Mitarbeitende auf den untergeordneten Hierarchiestufen. Ihre Leistungen werden häufig besser beurteilt, als sie tatsächlich sind. Auch für dieses Phänomen haben die Forschenden einen Namen gefunden. Sie bezeichnen es als Hierarchie-Effekt. Da der Effekt eine eigene Dynamik entfaltet und sich selbst verstärkt, lohnt es sich, nach Symptomen Ausschau zu halten:
- Lag es wirklich am Abteilungsleiter, dass das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden konnte, oder haben die engagierten jungen Kolleginnen, die sich neben ihrem Tagesgeschäft voll dahintergeklemmt haben, eine Anerkennung und möglicherweise Beförderung verdient?
- „Mit dem Team konnte ich die Umsatzziele unmöglich erreichen.“ Oder ist die Führungsperson selbst vielleicht für die unterdurchschnittliche Leistung verantwortlich und nicht das Team?
Der Kanadier Laurence Johnston Peter legte Ende der 60er-Jahre mit einer Veröffentlichung zum Peter-Prinzip den Finger in die Wunde. Die These: In hierarchisch geführten Organisationen wird jeder so lange befördert, bis er in eine Position gelangt, die ihn überfordert. Das liegt daran, dass die Eigendynamik des Hierarchie-Effekts betriebsblind macht. Ausschlaggebend für die Stellenbesetzung sind nicht die für eine Führungsposition erforderlichen Qualifikationen, sondern die fachlichen Leistungen aus der Vergangenheit.
Im Jahr 2017 wies der Autor Thomas Schuller mit seiner These des Paula-Prinzips darauf hin, dass Frauen vom Hierarchie-Effekt weniger profitieren. „Im Gegenzug zu Peter, der sich gerne selbst überschätzt, gut vernetzt ist und nach Beförderungen strebt, sind Paulas Frauen, die häufig auf Posten verharren, für die sie überqualifiziert sind. Sie bleiben hinter ihren Möglichkeiten – und das, obwohl es nicht neu ist, dass sie meist bereits zu Schulzeiten bessere Leistungen erbringen als Männer.“[7]
Hindsight Bias
Gut erforscht ist der Hindsight Bias, der Rückschaufehler, und wir kennen ihn alle:
- „Das hätte ich dir gleich sagen können.“
- „War ja klar, dass das so nicht klappt.“
- „Ich habe es kommen sehen und dich gewarnt.“ Wirklich?
Nachher ist man immer schlauer. Allerdings ist die nachträgliche Selbstüberschätzung gefährlich, weil sie uns daran hindert, aus Fehlern zu lernen. Schließlich suggeriert uns unser Gehirn, dass wir es die ganze Zeit richtig wussten. Das wäre etwa der Fall, wenn Sie von einem Kandidaten voll überzeugt sind, sich dieser aber als Fehlbesetzung herausstellt. Ihr Unterbewusstsein „schützt“ Sie nun davor, sich einzugestehen, dass Sie den Kandidaten falsch eingeschätzt haben. Sie bilden sich ein, gleich Ihre Zweifel gehabt zu haben. So laufen Sie Gefahr, bei der Nachbesetzung wieder danebenzuliegen, weil Sie sich nicht nach den Gründen für Ihre Fehleinschätzung fragen.
Horn-Effekt
Das Phänomen, dem die Forschung den Namen Horn-Effekt gegeben hat, setzt Personen statt eines Heiligenscheins (siehe Halo-Effekt) die Teufelshörner auf. Damit wird ein einziger negativer Eindruck unverhältnismäßig stark gewichtet.
- Schon Tippfehler im Anschreiben reichen, um einen komplett falschen Eindruck von Bewerbenden zu bekommen. Das Piercing, das Ihnen schon bei der eigenen Tochter nicht gefällt, eine zu flapsige Bemerkung oder eine „dumme“ Frage: Wir alle haben unsere Triggerpunkte – und schon scheidet eine potenzielle Mitarbeiterin aus, obwohl sie gut geeignet gewesen wäre.
- „Weißt du noch, wie der Meyer das Sommerfest vor fünf Jahren an die Wand gefahren hat?“ Dabei konnte der Kollege eigentlich nichts fürs Wetter und, dass der Entertainer bei der Belegschaft nicht ankam, war auch nicht unbedingt vorherzusehen. Er hat daraus gelernt und seitdem mit dem Rahmenprogramm den Geschmack der meisten immer getroffen. Doch den längst verjährten Misserfolg wird er nicht los.
Eine Eignungsdiagnostik, die ein rundes Bild von Personen zeichnet, sowie ein möglichst ausdifferenziertes Feedback helfen, den Horn-Effekt zu relativieren. Sie können sich auch bewusst machen, worauf Sie persönlich anspringen und möglicherweise zu kritisch reagieren. Überschneidungen dieses Phänomens mit dem Klebe-, aber auch mit dem Primacy-Effekt zeigen, dass die Beschreibung von Unconscious Biases alles andere als übersichtlich ist.
Eignungsdiagnostik: Fehler bei der Personalauswahl minimieren
Risiken in der Personalauswahl minimieren – wie Sie durch Eignungsdiagnostik Ihre Kandidat:innen künftig noch zielgerichteter evaluieren!
Information Bias
Wenig erforscht in der Wirtschaft ist der Information Bias. Er soll das Phänomen beschreiben, dass Menschen für anstehende oder bereits getroffene Entscheidungen viel mehr Informationen sammeln, als sie benötigen:
- Eigentlich ist sich das Führungsteam einig, wer ins Förderprogramm aufgenommen werden soll, doch um sicher zu gehen, laden Sie alle Nachwuchskräfte zu weiteren Eignungstests ein. Es handelt sich um generische Tests, die wenig über die Qualifikation für das Programm aussagen. Wie entscheiden Sie, wenn nun ausgerechnet die Kandidatinnen und Kandidaten gut abschneiden, die aus Sicht des Führungsteams nicht infrage kamen?
- Ist es zielführend, zehn Führungskräfte zu fragen, ob Kollege A oder Kollegin B ins Talentprogramm aufgenommen werden sollen? Relevant ist die Einschätzung der beiden Vorgesetzten, die Tag für Tag mit ihnen arbeiten. Und die ist eindeutig.
Ingroup Bias
Wenn Sie einen Mannschaftssport treiben, kennen Sie Teamgeist und den sportlichen Ehrgeiz, unbedingt zu gewinnen. Auch im Beruf spielen Zusammenhalt und Ehrgeiz eine wichtige Rolle. Allerdings besteht die Gefahr, dass sie sich zum Ingroup Bias und seinem Gegenspieler, dem Outgroup Bias, auswachsen. Hier wir – da „die anderen“:
- Führungskräfte beurteilen Mitarbeitende aus dem eigenen Team besser als die anderen.
- Teams halten an ihren eigenen Abläufen fest, auch wenn das Pilotprojekt im Nachbarteam hervorragende Ergebnisse gebracht hat.
- Die Ingroup fremdelt mit der neuen Kollegin, bis diese selbst dazu gehört und die Vorbehalte gegenüber der Outgroup teilt.
Schaffen Sie Gelegenheiten, über Teamgrenzen hinweg zusammenzukommen, um einer übertriebenen Blockbildung entgegenzuwirken. Es kann auch sinnvoll sein, dass Kolleginnen und Kollegen an ihrem Führungsstil arbeiten. Dann lebt die Belegschaft nur noch im Betriebssport ihren In- und Outgroup Bias richtig aus.
Klebe-Effekt
Der Klebe-Effekt besagt, dass negative Beurteilungen an Mitarbeitenden kleben bleiben. Wir lassen ihnen wenig Raum, sich weiterzuentwickeln, weil unser Urteil nun einmal feststeht: „Der Meyer tritt auf der Stelle. Entweder er will nicht oder er kann nicht anders.“ Erinnern Sie sich noch an einen Auszubildenden, der es nur mit Ach und Krach durch die Prüfung geschafft hat? Auch wenn er seit Jahren in der Personalabteilung einen guten Job macht, fürchten Sie bei jeder Weiterbildung, dass er ohne Zertifikat zurückkommt.
Kontrasteffekt
Am Rande gehört der Kontrasteffekt zu den Reihenfolge-Biases (siehe unten). Nicht nur die zeitliche Abfolge von Bewerber- oder Mitarbeitergesprächen spielt bei der Personalbeurteilung eine Rolle, sondern auch, welcher Kandidat auf welche Kandidatin folgt:
- Für die Vakanz im Projektmanagement haben Sie sowohl interne als auch externe Bewerbende zum Gespräch eingeladen. Sie sind vom ersten Kandidaten derart begeistert, dass die anderen praktisch keine Chance mehr haben. Sie bewerten sie schlechter als ohne diesen Vergleich, auch wenn sie alle Kriterien erfüllen, die Sie vorher aufgestellt haben.
- Sie suchen nach einer Person mit guten Englischkenntnissen. Der Hintergrund: Die Zentrale gibt regelmäßig auf Englisch neue Leitlinien für HR-Prozesse heraus. Im Bewerbungsgespräch stellen Sie fest, dass eine Kandidatin verhandlungssicher Englisch spricht. Der darauffolgende Kandidat verfügt über gute Englischkenntnisse – wie verlangt –, kann sich aber nicht so sicher ausdrücken wie die Vorgängerin. Obwohl die Englischkenntnisse beider für die Stelle im HR-Team vollkommen ausreichen, entscheiden Sie sich gegen den Kandidaten, weil Sie ihn mit der Kandidatin vergleichen.
- Diesen Anwärter fürs Trainee-Programm hätten Sie besser nicht kennengelernt – vollkommen ungeeignet. Umso besser für den Kandidaten, der nach ihm den Besprechungsraum betritt. Er hätte es schwerer gehabt, wenn Sie vorher einen Überflieger kennengelernt hätten.
Omission Bias
Chancen sind positive Risiken. Die Entdecker des Omission Bias oder auch Unterlassungseffekts beziehungsweise Unterlassungsfehlers meinen allerdings, dass wir die Risiken einer Handlung systematisch über-, die Chancen unterschätzen. Sowohl auf Arbeitnehmer als auch auf Arbeitgeberseite kann dieser Effekt auftreten:
- Sie haben den Eindruck, dass im Abrechnungsteam etwas nicht stimmt. Die Mitarbeitenden wirken sehr verhalten, andere dauernd gereizt und es scheint so, als würden die Krankmeldungen leicht nach oben gehen. Sollen Sie als Personalverantwortlicher die Abteilungsleiterin offen darauf ansprechen? Sie ist schon ewig an Bord und fachlich kann ihr niemand das Wasser reichen. Aber wenn die Nachwuchskräfte, mit denen Sie die ausgeschiedenen langjährigen Kolleginnen und Kollegen ersetzt haben, einfach nicht mit ihr können und kündigen? Vorerst scheint Ihnen das Risiko, die sehr von sich überzeugte Abteilungsleiterin zu verärgern und möglicherweise zu verlieren, größer. Sie warten erstmal ab.
- Die Prozesse im Kundenservice sind schlecht organisiert und müssten endlich einmal neu strukturiert werden. Dann wären die Mitarbeitenden zufrieden – und die Kunden auch. Aber wenn die von Ihnen angestoßene Umstrukturierung schief geht, stehen Sie in der Kritik. Also doch lieber alles beim Alten lassen?
Overconfidence Bias
Management-Coach Anke Houben hat sich eingehend mit diesem Effekt beschäftigt: Führungskräfte vergiften das Klima oder richten gar wirtschaftlichen Schaden an, weil sie sich bis zum Realitätsverlust überschätzen. Wie sich das auswirkt, verdeutlich ein Vorstandsmitglied, das Anke Houben zitiert: „Ich werfe mich doch nicht vor einen Zug unter Volldampf – was glauben Sie, was denn passiert, wenn ich meinem Chef widerspreche oder Probleme offen auf den Tisch packe? Du wirst abgebügelt.“[8] Die Überschätzung der eigenen Kompetenz wird Overconfidence Bias oder auch Overconfidence Effect genannt. Männer neigen stärker zur Selbstüberschätzung als Frauen. Sie haben zum Beispiel keine Hemmungen, sich auf eine Stelle zu bewerben, wenn sie tatsächlich nur 60 % der Anforderungen abdecken. Frauen hingegen streben eine hundertprozentige Übereinstimmung an.
Gendergerechte Personalpolitik
Frauen fühlen sich häufig wenig von Jobinseraten angesprochen, in denen das generische Maskulinum dominiert. Das Gendern in Stellenanzeigen kann helfen.
So können Sie Auswirkungen des Overconfidence Bias relativieren:
- Schreiben Sie nur die absolut notwendigen Anforderungen in eine Stellenausschreibung. So erhöhen Sie den Frauenanteil bei den Bewerbenden und haben es nicht überwiegend mit Männern zu tun, die lediglich meinen, Ihre Anforderungen zu erfüllen.
- Besetzen Sie Projektteams divers. So steigt die Kompetenz, sich gegenseitig Feedback zu geben. Sie reduzieren Fehler als Folge von Selbstüberschätzungen.
- Gewichten Sie bei der Personalauswahl die Selbsteinschätzung nicht zu stark. Setzen Sie vielmehr auf eine differenzierte Eignungsdiagnostik.
Reihenfolge-Biases
Forscher haben sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sich die zeitliche Abfolge auf die Wahrnehmung auswirkt und diese möglicherweise verzerrt. Drei Effekte tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder auf:
- Primacy-Effekt „Es gibt keine zweite Chance für den ersten Eindruck.“ Diese Binsenweisheit nennt sich in der Bias-Forschung „Primacy-Effekt“: Bereits nach wenigen Sekunden, „wissen“ Sie, mit wem Sie es zu tun haben. Alle weiteren Informationen werden, wenn irgend möglich, so interpretiert, dass sie den primären Eindruck bestätigen.
-
Nikolaus-Effekt oder auch Recency-Effekt. Dieser Effekt verdankt der These ihren Namen, dass der Nikolaus sich vor allem das Verhalten der Kinder kurz vor dem 6. Dezember anschaut. Ob sie „brav“ waren, entscheidet sich nicht mit Blick auf den letzten Winter, sondern am Verhalten im Oktober und November. Das bedeutet, dass in die Beurteilung einer Person die Eindrücke der letzten Zeit stärker einfließen und ältere Eindrücke verblassen.
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Primacy-Recency-Effekt Der Primacy-Recency-Effekt wird auch „Reihenfolgeeffekt“ genannt. Die Forschungsliteratur fasst in ihm die auf den ersten Blick widersprüchlichen Effekte „Primacy“ und „Nikolaus“ zusammen. Damit wird auf den Umstand hingewiesen, dass die zeitliche Abfolge generell eine wichtige Rolle spielt, wenn wir Eindrücke einordnen. Besonders wichtig sind erste und letzte Eindrücke, während das „Dazwischen“ eher verschwimmt.
Alle drei beobachteten Effekte können sich auf die Personalarbeit auswirken:
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Der Bewerber begrüßt Sie für Ihren Geschmack etwas zu forsch und flapsig. Sämtliche Unterlagen und Referenzen sprechen allerdings für den jungen Mann. Es wäre fatal, wenn Sie der Primacy-Effekt in diesem Fall im Griff hätte.
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Das Jahresgespräch steht an und kurz zuvor ist dem Unternehmen ein Schaden entstanden wegen einer Fehleinschätzung der Mitarbeiterin: Sie laufen Gefahr, all die Erfolge der Kollegin nicht zu sehen und sie unter dem letzten negativen Eindruck deutlich schlechter zu beurteilen, als sie es verdient hat.
-
Sie führen eine Reihe von Bewerbungsgesprächen für eine Beförderung. An das erste und letzte werden Sie sich besonders gut erinnern können. Wenn Sie alle Gespräche nach dem gleichen Muster dokumentieren, können Sie Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Sie können den Primacy-Recency-Effekt auch in der Reihenfolgeplanung berücksichtigen.
Spotlight-Effekt
Erhellend ist ein Phänomen, dem die Forschung den Namen Spotlight-Effekt gegeben hat. Danach überschätzen wir die Rolle, die wir in den Gedanken anderer spielen. Das führt zu Unsicherheiten und kann Ängste vor Fehlern auslösen. Um die Reaktionen Ihrer Mitarbeitenden besser einzuschätzen, sollten Sie den Spotlight-Effekt im Hinterkopf behalten:
- Eine Kollegin reagiert sehr gereizt, nahezu überempfindlich auf Kritik. Möglicherweise mangelt es ihr an Selbstbewusstsein und sie hat das Gefühl, dass sich das Team über sie lustig macht. Hier sind Geduld und Fingerspitzengefühl gefragt. Auch eine allgemeine Sensibilisierung im Team für den Spotlight-Effekt und seine Auswirkungen kann helfen, um ein Klima zu schaffen, in dem sich Betroffene wohlfühlen.
- Sie machen den Kollegen auf einen Flüchtigkeitsfehler aufmerksam, der nicht weiter tragisch ist, aber nicht mehr vorkommen sollte. Ihr Gegenüber verwandelt sich in ein knallrotes, stammelndes Etwas. Offensichtlich denkt er, das ganze Team hat schon von seinem Missgeschick erfahren und redet hinter seinem Rücken über ihn. Auch er scheint stark unter dem Spotlight-Effekt zu leiden.
Da in Ihrer Belegschaft immer auch eher unsichere Menschen sein werden, sollten Sie eine Fehlerkultur schaffen, in der sich empfindliche Menschen nicht bloßgestellt fühlen.
Survivorship Bias
Ist es sinnvoll, erfolgreiche Unternehmerinnen zu fragen, wie man gründet? Geht es nach den Entdeckern des Survivorship Bias können Sie das durchaus tun. Mehr erfahren würden Sie allerdings, wenn Sie sich mit den Unternehmern unterhielten, die gescheitert sind. Der Survivorship Bias besagt, dass wir eine verzerrte Wahrnehmung haben, weil wir nur über Informationen von denen verfügen, die gewisse Prozesse „überlebt“ haben:
- Nur wer eine Bewerbung einreicht, wird in der Regel nach seiner Candidate Experience So erfahren Sie nicht, weshalb prinzipiell Interessierte darauf verzichten haben, sich bei Ihnen zu bewerben: Stellen Sie zu hohe Anforderungen? Bieten Sie Konditionen, die Ihre Wettbewerbsfähigkeit als Arbeitgeber einschränken? Ist der Prozess auf Ihrem Recruiting-Portal zu kompliziert? Ein „Bevor Sie gehen“-Popup-Fenster könnte erste Antworten liefern.
Candidate Experience
Was bedeutet Candidate Experience und wie schaffen es Unternehmen, Bewerbende von sich zu begeistern und langfristig ans Unternehmen zu binden?
- In Mitarbeiterbefragungen kommen nur die Mitarbeitenden zu Wort, die zumindest so zufrieden mit ihrem Arbeitgeber sind, dass sie das Unternehmen nicht verlassen. Aufschlussreich wäre zu erfahren, weshalb Mitarbeitende kündigen. Deshalb sind Offboarding-Gespräche so wichtig.
Wenn Sie den Survivorship Bias kennen, können Sie Ihren Horizont erweitern, indem Sie sich bewusst bei den Menschen informieren, die vermeintlich aus Ihrem Relevant Set herausfallen. Das kann aufschlussreich sein, um Schwachstellen zu erkennen.
Verlustaversion
Mit Verlustaversion (Loss Aversion) werden ähnliche Phänomene beschrieben wie beim Endowment-Effekt: Wer schätzt, was er hat, will es nicht verlieren. Was sich bei Arbeitnehmern als Change-Skepsis und geringe Bereitschaft, den Arbeitsplatz zu wechseln, äußert, betrifft auch die Personalabteilung selbst:
- Es könnte sein, dass der erfahrene Sachbearbeiter gar nicht so schwer zu ersetzen wäre. Eine neue Kollegin würde sogar frischen Wind in die Abteilung bringen. Dennoch setzt HR alles daran, den latent unzufriedenen Mitarbeiter zu halten.
- Aufgabenverteilung, Zuständigkeiten, Organisation: Es lohnt sich, einmal zu prüfen, wie es mit der Verlustaversion in der Personalabteilung steht. Schieben Sie Veränderungen vor sich her, weil Sie oder Ihre Mitarbeitenden Verlustängste haben?
Unconscious Bias und Künstliche Intelligenz
Unconscious Biases werden auch im Zusammenhang mit KI diskutiert. Manch Technik-Enthusiast frohlockt schon, dass KI viel besser darin wäre, Urteile abzugeben als Menschen. Doch die Situation ist kompliziert.
- Algorithmen erlernen Muster aus vorhandenen Daten und wenden diese auf neue Daten an. Da all diese „Trainingsdaten“ ursprünglich von Menschen erstellt wurde, lernt die KI ohne Eingriffe die gleichen Vorurteile. Trainiert sie etwa mit aktuellen Personaldaten in einem Unternehmen (zum Beispiel Marketing 80 % Frauen, Softwareentwicklung 90 % Männer), wird sie den Satus quo reproduzieren und die Regel befolgen, dass Softwareentwickler Männer sein müssen.
- Greifen Programmierer aber in diese Lernlogik ein, tun sie das wiederum nach ihren Überzeugungen, die eben nie unbeeinflusst neutral sein können. Da uns unsere Unconscious Biases größtenteils nicht bewusst sind, können wir kaum vermeiden, sie unseren KI-Systemen als DNA mitzugeben. In Verlängerung ihrer Erschaffer reproduzieren sie die Wahrnehmungsverzerrungen, die unser Welt- und Menschenbild prägen.
- Auch hier gilt: Gefahr erkannt, Gefahr in Ansätzen gebannt. Die Technische Universität München bietet einen vom Bund geförderten Gender Decoder[9] an, um diskriminierende Sprache aus Stellenanzeigen herauszufiltern. Fließen Inklusions- und Diversitätskompetenzen in die Entwicklung von KI-basierten Recruiting-Lösungen ein, können Biases effektiv eliminiert werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, soziodemografische Angaben erst nach einem Vorstellungsgespräch zu verlangen.
Interview mit der Juristin und KI-Expertin Dr. Inka Knappertsbusch (1/2)
Im August verabschiedete das EU-Parlament den AI Act. Dr. Inka Knappertsbusch ordnet diesen ein und gibt Tipps für den KI-Einstieg aus rechtlicher Sicht
Ein aktueller Randstad-Report[10] zur „Gerechtigkeitslücke zwischen den Geschlechtern, Generationen und Menschen mit Behinderungen“ legt nahe, dass ein gerechter Zugang zu KI diese Lücke schließen und damit einen wichtigen Beitrag zum Talentmanagement leisten kann. So nutzen Menschen mit Behinderung KI, um sich im Arbeitsalltag und auch bei Bewerbungen unterstützen zu lassen.
Unconscious Bias: Kritik
Allein die Länge dieses Beitrags weist auf ein entscheidendes Manko des Konzepts der Unconscious Biases hin: Die Beschreibung der Phänomene ist sehr unübersichtlich, teils überlappen sich die Wahrnehmungsverzerrungen, teils widersprechen sich die Phänomene sogar, wenn Sie sich beispielsweise die Reihenfolge-Biases anschauen. Es fehlt ein übergreifendes, detailliertes Modell, das den Umgang mit der Gesamtheit der Wahrnehmungsverzerrungen erleichtert.
Manches wirkt künstlich wie beispielsweise die Truthahn-Illusion, die wir bewusst nicht aufgenommen haben. Generell werden wir uns von Unconscious Biases nicht freimachen können, da sie zu unserem Denken gehören. In vielen Zusammenhängen sind sie unkritisch. Es ist nicht schlimm, dass Sie sich an den An- und Abreisetag eines Urlaubs besser erinnern als an die Tage dazwischen. Schwierig wird es erst, wenn es über die Karriere eines Menschen entscheidet, ob Sie ihn am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Reihe von Vorstellungsgesprächen kennenlernen. Um Personalbeurteilungen und andere HR-Prozesse fair zu gestalten, ist es daher unerlässlich, zumindest die wichtigsten Streiche zu kennen, die das schnelle Denken unserer Urteilskraft spielen kann.
[1] https://implicit.harvard.edu/implicit/germany/takeatest.html
[2] https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/65/Cognitive_bias_codex_en.svg
[3] https://vervoe.com/similarity-bias-in-hiring/
[4] https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0254785
[5] https://sheconomy.media/beauty-bias-wie-gewicht-und-koerpergroesse-das-gehalt-beeinflussen-koennen/
[6] https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/psychologie/der-dunning-kruger-effekt-einfach-erklaert/
[7] https://www.kursfinder.de/ratgeber/peter-prinzip-und-paula-prinzip-18316
[8] https://www.welt.de/wirtschaft/bilanz/article184296022/Management-Fuehrungskraefte-raus-aus-der-Selbstueberschaetzungsfalle.html
[9] https://genderdecoder.wi.tum.de/
[10] https://www.randstad.de/s3fs-media/de/public/2024-11/randstad-report-talent-scarcity-ai-equity.pdfHören und lesen Sie mehr zum Thema
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