Von Bianca Lampart · 4 Minuten Lesezeit
Interview mit Dr. Michael Andrick über Führung in der modernen Industriegesellschaft, Fehlbesetzungen bei der Führungskräfteauswahl und die Rolle von HR
Bianca Lampart: Lieber Herr Dr. Andrick, in Ihrem aktuellen Buch „Erfolgsleere - Philosophie für die Arbeitswelt“ setzen Sie sich kritisch mit der modernen Industriegesellschaft auseinander. Sie analysieren das Spannungsfeld zwischen der Konformität, die eine Karriere uns abverlangt, und dem moralischen Anspruch an das eigene Leben. Dabei entwickeln Sie neue, zu neuem Nachdenken zwingende Interpretationen altbekannter Begriffe wie Professionalität, Ehrgeiz und Erfolg.
Über ein Thema in Ihrem Buch möchte ich mich mit Ihnen heute gerne etwas näher unterhalten, und zwar über das Thema Führung in der modernen Arbeitswelt.
Philosoph und Manager
Dr. Michael Andrick ist Philosoph und Manager aus Berlin. Für das Buch „Erfolgsleere - Philosophie für die Arbeitswelt“ (Herder Verlag) und seine philosophischen Kolumnen in der Berliner Zeitung erhielt er 2022 den „Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft“. Seit 2006 arbeitet er in Großunternehmen. Anfragen für Vorträge oder Workshops können über www.derandrick.de gestellt werden.
Bedeutung von Führungskräften für Unternehmen
Bianca Lampart: Welche Bedeutung haben Führungskräfte aus Ihrer Sicht in und für Unternehmen?
Dr. Michael Andrick: Zur Erhaltung des Status quo reichen Verwalter (Manager) völlig aus. Führungskräfte sind keine Verwalter, sie sind Veränderungsarchitekten. Denn jede noch so klug ausgedachte Organisation, jeder noch so routiniert beherrschte Prozess ist irgendwann nicht mehr zeitgemäß. Die Außenwelt wandelt sich, und Organisationen und Prozesse müssen dem angepasst werden.
Führung ist eine Krisentätigkeit, die man nur dann braucht, wenn Veränderungen der bisher üblichen Professionalität notwendig werden.
Kompetenzen einer guten Führungskraft
Bianca Lampart: Was macht für Sie eine gute, wirklich wirksame Führungskraft aus? Welche Kompetenzen sollte sie mitbringen?
Dr. Michael Andrick: Das ergibt sich aus dem Umfeld, in dem sie arbeitet. In hierarchischen Organisationen erkennt man eine gute Führungskraft daran, dass Hierarchieunterschiede in ihrem Verantwortungsbereich im Arbeitsalltag keine Rolle spielen – außer wenn der Chef fragt „Wie kann ich helfen?“, um den Mitarbeiter zu unterstützen, wo er allein nicht weiterkommt.
Die Arbeit ist möglichst projektförmig organisiert, Entscheidungsbefugnisse werden dort angesiedelt, wo die Sachkompetenz liegt, und die Führungskraft signalisiert Vertrauen und Wertschätzung. All das muss im Rahmen klarer Zielvereinbarungen erfolgen und von einer zugewandten Gesprächsführung begleitet werden.
Denn um solch ein Arbeitsumfeld für ihre Mitarbeiter zu gestalten, müssen Sie vor allem zuhören wollen, d. h. sich wirklich für ihre Leute und ihre Ansichten und Fähigkeiten interessieren. Denn nur dann können Sie die Arbeit so im Team verteilen, dass Stärken gut genutzt und Schwächen wenig fühlbar werden. Und dann arbeiten sie so weit an jedem Thema mit, wie sie es dem gemeinsamen Erfolg dienlich finden.
Kurz: Eine gute Führungskraft wendet sich ihren Mitarbeitern mit ganzer Aufmerksamkeit zu und wünscht sich ihren Erfolg.
Merkmale einer schlechten Führungskraft
Bianca Lampart: Trotzdem finden sich in Unternehmen auch schlechte Führungskräfte. Wie unterscheiden sie sich von den guten?
Dr. Michael Andrick: Schlechte Führungskräfte wenden sich mit ganzer Aufmerksamkeit sich selbst zu und wünschen sich ihren eigenen Erfolg. Sie sind von Status und Geld motiviert, betonen Hierarchieunterschiede, behalten sich faktisch nicht nur in strategischen, sondern auch in taktischen Fragen die Entscheidungen vor und signalisieren ihren Mitarbeitern, dass sie einen Kompetenzvorsprung vor ihnen haben.
Sie belohnen und befördern Ja-Sager zu ihren Meinungen oder solche Mitarbeiter, die ihnen selbst intellektuell oder zwischenmenschlich den Status als „Oberster“ nicht streitig machen können. Denn das ist der sicherste Weg, seine eigenen Pfründe zu sichern.
Fehlbesetzung von Führungspositionen
Bianca Lampart: Und wieso findet man diese Personen heute immer noch in Führungspositionen vor?
Dr. Michael Andrick: Hierarchische Organisationen reflektieren nicht die Werte einer freiheitlichen Verfassungsordnung. Wir schätzen generell Offenheit, Toleranz, die Gewährung von gleichem Respekt, kurz: Gleichberechtigung. Hierarchien aber sind formalisierte Ungleichberechtigungen. Einige können über andere verfügen, ohne in der Regel darüber vor einem Dritten Rechenschaft ablegen zu müssen. Das korrumpiert tendenziell die Personen, die diese Machtpositionen ausfüllen.
Man könnte sagen: Unsere hierarchischen Organisationen kultivieren und belohnen bis zu einem gewissen Grad negative Charaktereigenschaften. Wo es darauf ankommt, sich nach links und rechts zu profilieren, um für die nächsthöhere Ebene in Frage zu kommen, da gibt es Konkurrenz – das zugrunde liegende lateinische Verb besagt, dass mehrere dasselbe wollen und deshalb zusammenprallen. Das begünstigt Neid und Missgunst, den bloß taktischen Umgang mit der Wahrheit und generell eine egozentrische Mentalität.
Egozentrik ist genau betrachtet die Ursache aller unserer sozialen Probleme und so auch unserer Führungsprobleme.
Rolle und Bedeutung von HR
Bianca Lampart: Wenn Führung, wie Sie sagen, „Veränderungskunst“ ist, dann müssten Unternehmen alles daransetzen, die wirklich guten Führungskräfte zu identifizieren. Welche Rolle und Bedeutung kommen hier dem HR-Bereich zu?
Dr. Michael Andrick: Als erstes gehört der Bereich umbenannt in „Personalangelegenheiten“ oder „Mensch und Kultur“, wenn er als Akteur in der Führungskräfteentwicklung ernstgenommen werden will. Menschen als Betriebsmittel (als Humankapital) zu bezeichnen ist unangemessen. Alles Kapital ist für den Menschen da, der Mensch ist selbst kein Kapital.
Der Personalbereich sollte bei der Rekrutierung von Führungspersonal nicht nach Leuten suchen, die sich selbst durchsetzen wollen, sondern nach solchen, die sich für andere Menschen und die Sachfragen des Geschäfts interessieren und sie verstehen wollen. Solche Persönlichkeiten werden sich dann auch in der Führung durchsetzen, aber aus den richtigen Gründen: Denn sie wollen ja tun, was für ihre Leute und das Unternehmen gut und richtig ist. Sie sind nicht bloß Unternehmer ihrer selbst, sondern der Unterstützer ihrer Mitarbeiter und Antreiber eines für das Unternehmen gesunden Wandels.
Und Führungskräfte sollten auch schon gezeigt haben, dass sie Urteilsvermögen besitzen und ein Problem sowohl von Grund auf durchdenken als auch pragmatisch lösen können. Denn wenn sie darin keine Erfahrung und keine Kompetenz haben, dann können sie ihre Mitarbeiter noch so gut verstehen und auf sie eingehen – sie können ihnen dann nicht helfen, Übersicht herzustellen und wieder in Gang zu kommen, wenn sie steckenbleiben.
Hörempfehlung:
Podcast
Führung kann nicht jeder (2/2) - So verbessert HR die Führungskultur
Zweiter Teil des Interviews mit Führungskräfte-Coach Henryk Lüderitz
Interne Besetzung von Führungspositionen
Bianca Lampart: Worauf sollte HR im Rahmen der Personalentwicklung insbesondere achten, wenn interne Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ohne Personalverantwortung neu in eine Führungsposition gehoben werden?
Dr. Michael Andrick: Man sollte neuen Teamleitern ganz klar sagen, dass ihre alten Stärken jetzt ihre neuen Schwächen werden können. Denn wenn ich als exzellenter Projektleiter schnell und energisch alle Probleme selbst gelöst habe, bin ich vielleicht geneigt, meinen Teammitgliedern ihre Arbeit aus der Hand zu nehmen, wenn es mal schwierig wird.
Und so kann man einmal alle Stärken und Erfolgsfaktoren des neuen Teamleiters in seiner alten Rolle als Mitarbeiter ohne Führungsaufgabe mit ihm durchsprechen und mit ihm reflektieren, ob sie jetzt noch die richtigen Verhaltensweisen für ihn sind. Diese Diskussion habe ich immer geführt, wenn ich eine Teamleitung besetzt habe, und sie war immer sehr aufschlussreich.
Führungsdilemma und kritisches Nachdenken
Bianca Lampart: Eine letzte Frage: In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass Professionalität sowie konformes Auftreten und Handeln in Unternehmen einerseits notwendig sind, damit „das Erforderliche nicht täglich neu verhandelt“ werden muss. Andererseits aber behindert dies das eigenständige, kritische Nachdenken. Wie sollen wir mit Blick auf Führungsaufgaben mit diesem Dilemma umgehen?
Dr. Michael Andrick: Bei der Ausarbeitung von Erfolgsleere bin ich mir bewusster geworden, dass Routinen tendenziell verdummend wirken und dass, nur weil alle irgendetwas „so oder so“ machen, darin keine höhere Weisheit liegt. Heute kann ich mich in gewissem Grad konformieren, ohne das kritische Nachdenken und das eigenständige Urteil dabei abzugeben.
Es ist tatsächlich ein Dilemma: Um die Potenziale einer Organisation nutzen zu können, müssen wir mit ihr konform gehen; gehen wir aber nur und völlig mit ihr konform, so wird die Organisation versteinern, aus der Zeit fallen und scheitern – und wir werden dabei unser eigenständiges Urteil verlieren und zum seelenlosen Funktionär mutieren.
Macchiavelli hat einen guten Ratschlag: Er schreibt, dass jeder Staat einmal eine spezielle Stärke und Tugend gehabt hat, sonst wäre er nicht entstanden und hätte sich auch nicht so lange behauptet.
Genau so können wir auch bei einem Unternehmen immer mal wieder fragen, warum es eigentlich entstanden ist, was es damals stark gemacht hat und warum es sich so lange behauptet hat.
Dann sehen wir leichter, welche Werte das gemeinsame Handeln bisher auch durch schwere Phasen getragen haben – und was aktuell veränderungsreif geworden ist und nach Führung ruft.
Bianca Lampart: Lieber Herr Dr. Andrick, herzlichen Dank für das inspirierende, zum Nachdenken anregende Gespräch – es war mir eine Freude!
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