Von HR HEUTE-Redaktion · 6 Minuten Lesezeit
Kaum ist VUCA gelernte Realität, scheint das Konzept den aktuellen Entwicklungen nicht mehr standzuhalten. Es braucht ein neues Modell – und das könnte BANI sein.
Verfolgt man einen Tag lang intensiv die Nachrichten, kann man das Gefühl bekommen, uns gehe es heute so schlecht wie noch nie – und in Zukunft wird alles noch schlimmer. Doch der Eindruck trügt, unser Gehirn spielt uns einen Streich. Wir beurteilen den Zustand der Welt nämlich grundsätzlich negativer, als er tatsächlich ist. Das liegt daran, dass unser Gehirn negative Informationen besser, schneller und intensiver verarbeitet als positive. Wissenschaftler nennen das „Negativity Bias“. Aus evolutionspsychologischer Sicht ergibt das Sinn – es verschafft uns einen Überlebensvorteil. Im alltäglichen Leben ist der negative Fokus eher kontraproduktiv: Wir sind gefühlt dauerhaft im Krisenmodus und chronisch gestresst. Tatsächlich ist die Welt schon immer komplex und herausfordernd. Seit den 1980ern gibt es dafür sogar einen Begriff: VUCA.
VUCA setzt sich aus den Wörtern „Volatile“ (volatil), „Uncertain“ (unsicher), „Complex“ (komplex) und „Ambiguous“ (mehrdeutig) zusammen und beschreibt die sich ständig verändernden Rahmenbedingungen und Anforderungen unserer Umgebung. Das Akronym stammt ursprünglich vom „US Army War College“ und diente dazu, sich nach dem Kalten Krieg neu zu sortieren. Mit der Zeit wurde es zum Konzept für Unternehmens- und Managementstrategien weiterentwickelt, um Instrumente für das agile Denken und Arbeiten in einer digitalen, vernetzten Zukunft zu schaffen. In den vergangenen Jahren galt VUCA als wichtiges Modell für Unternehmen, um sich strukturell und kulturell an Herausforderungen weitgehend anzupassen.
Pandemie, Klimawandel und Co. – eine Welt im Chaos
Kaum ist VUCA gelernte Realität, scheint das Konzept den aktuellen dynamischen Entwicklungen nicht mehr standzuhalten. Das 21. Jahrhundert ist von Transformationen und Systemkrisen geprägt, in denen Zusammenhänge kaum noch erkennbar, Wechselwirkungen nicht sichtbar und die Folgen unberechenbar sind. Die Lage erscheint chaotisch. Der Global Risk Report des Weltwirtschaftsforums sieht in der Klimakrise, der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft, erhöhten Cyberrisiken und einer uneinheitlichen globalen Erholung in Zeiten der Pandemie die größten globalen Risiken für 2022. Unternehmen, Führungskräfte, Mitarbeitende und Berufseinsteigende blicken zunehmend pessimistisch in die Zukunft. Dies ist häufig mit der Sorge um Leben und Lebensunterhalt verbunden – darunter Infektionskrankheiten, Beschäftigungskrisen, digitale Ungleichheit und Desillusionierung der Jugend.
Entscheidend wird sein, welche Lehren die Unternehmen aus Krisen ziehen und inwiefern ihnen diese helfen, Risiken langfristig zu erkennen, sich vorzubereiten und rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu treffen.
BANI: Wegweiser für eine chaotische Welt
Ein neues Modell, das Unternehmen auf diesem Weg unterstützen könnte, heißt BANI.
BANI stammt vom amerikanischen Zukunftsforscher Jamais Cascio und zielt darauf ab, die aktuellen Entwicklungen zu veranschaulichen und verständlicher zu machen – um dann besser reagieren zu können. Es setzt sich zusammen aus:
- B – Brittle (brüchig)
Brittle beschreibt ein brüchiges und sprödes System. Häufig wirkt es nach außen stark, im Inneren aber ist es nicht flexibel und elastisch genug, um steigendem Druck standzuhalten. Die Arbeitswelt ist i.d.R. ökonomisch getrieben und somit geprägt vom Bestreben, Gewinne oder Umsätze zu maximieren. Mitarbeiterbelange rücken dabei leider zu oft in den Hintergrund. Die Folge: Mangelnde Motivation und Unzufriedenheit seitens der Mitarbeitenden. Oft zeigt sich dies in schlechten Ergebnissen bei Mitarbeiterbefragungen, Vorgesetztenbeurteilungen oder 360 Grad Feedbacks oder gar in einer hohen Fluktuationsrate. Werden diese Warnhinweise übersehen oder die Gründe nicht eruiert und an der Wurzel gepackt, wird die Organisation von innen heraus instabil und, um bei der Definition zu bleiben, brüchig.
- A – Anxious (ängstlich)
In einer chaotischen Welt entstehen viel Angst und Sorge um die Zukunft. Umso mehr sehnen sich die Akteure nach stabilen und sicheren Verhältnissen. Dies führt wiederum dazu, dass sie vorsichtig und passiv werden – auch in ihren Entscheidungen. Eine aktuelle Studie zeigt, dass mehr als die Hälfte aller befragten Führungskräfte Entscheidungen weniger sicher trifft als vor der Pandemie. Der Grund: Entscheidungen müssen heute schneller und ohne viel Zeit zum Überlegen getroffen werden – damit steigt nicht nur die Angst vor Entscheidungen, sondern auch vor Fehlern. Und zwar sowohl bei Führungskräften als auch bei Mitarbeitenden. Angst ist aber immer ein schlechter Berater und lähmt eine Organisation, was zu einem echten Wettbewerbsnachteil in agilen Zeiten werden kann.
- N – Non-linear (nicht linear)
Wie eingangs bereits erwähnt, haben wir es aktuell mit vielen Ereignissen zu tun, die nicht mehr übereinstimmen, sich nicht gegenseitig bedingen und keinem kausalen Zusammenhang zu entsprechen scheinen. Das Prinzip von Ursache und Wirkung ist nicht mehr nachvollziehbar, wie sich die Dinge entwickeln, schlecht vorhersehbar: Große Anstrengungen zeigen keine Wirkung, kleine Entscheidungen haben massiven Einfluss.
Diesen Umständen mit altbekannten und bislang bewährten Maßnahmen und Mitteln begegnen zu wollen, wie festen Strukturen und der Tendenz zu rein sachlichen Entscheidungen, kann schnell in eine Sackgasse führen. Der Versuch, alle Eventualitäten zu durchdenken und mögliche Konsequenzen zu antizipieren, endet oft in einem Alltag, der von vielen ineffizienten Strategie- und Planungsmeetings geprägt ist, sowie einer allgemeinen Scheu vor Veränderung.
- I – Incomprehensible (unverständlich)
Uns stehen so viele Tools und Daten zur Verfügung wie noch nie und trotzdem haben wir das Gefühl, die Welt nicht zu verstehen. Oft sind wir überfordert. Dies gilt auch im Unternehmenskontext. Entweder stehen Informationen nur einigen Wenigen zur Verfügung, so dass der Rest Zusammenhänge oder Entscheidungen nicht nachvollziehen kann. Oder die schier unendliche Masse an Informationen, die für alle jederzeit verfügbar sind, führt dazu, dass es Entscheiderinnen und Entscheidern zunehmend schwerfällt, Relevanz und Tragweite zu erfassen und angemessen zu reagieren.
Uns stehen so viele Tools und Daten zur Verfügung wie noch nie und trotzdem haben wir das Gefühl, die Welt nicht zu verstehen. Oft sind wir überfordert. Dies gilt auch im Unternehmenskontext.
RAAT: Praktische Anwendung von BANI
Was also tun in einem chaotischen oder zumindest chaotisch anmutenden Markt- und Arbeitsumfeld? Jamais Cascio hat mit dem BANI-Modell auch einige Möglichkeiten zur Umsetzung entwickelt. Insbesondere im Bereich der Personalentwicklung, wo VUCA bisher nur wenige Anhaltspunkte bot. BANI ermöglicht einen Perspektivenwechsel und betrachtet auch die unterschiedlichen Personalbedarfe in einer neuen (Arbeits-)Welt. Im Fokus stehen Fragen wie:
-
- Wie können Führungskräfte und Mitarbeitende mit einem unsicheren und unvorhersehbaren System umgehen?
- Welche Bereiche können sie überhaupt beeinflussen? Und auf welche Eigenschaften kommt es dann an?
- R – Resilienz
Unternehmen mit einer hohen organisationalen Resilienz reagieren gelassener auf Krisen und gehen unbeschadeter aus ihnen hervor. Da Resilienz eine Frage des Bewertungsstils ist, lässt sich die Fähigkeit aktiv erlernen. Konkret geht es um den Glauben, trotz allem selbst noch etwas bewirken zu können. Wie Bewertungsstile entstehen, wird derzeit in Zusammenhang mit Hirnaktivität, Schlafdauer, Stresshormonen, Hautleitfähigkeit, Herzschlag, Blutproben und Mikroorganismen im Stuhl wissenschaftlich erforscht. Fest steht: Mit einem Seminar ist es nicht getan.
Es geht vielmehr um einen langfristigen Prozess, auf den man sich einlassen und den man wollen muss. Als entscheidende Faktoren für die positive Entwicklung identifizieren Forschende unter anderem Humor, die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, Optimismus sowie eine gewisse Form von Spiritualität. Unternehmen sollten diese Eigenschaften fest in ihrer Kultur verankern.
Hörempfehlung:
Podcast
Glückliche Mitarbeitende sind kein Zufall
Interview mit Glücksforscherin Saskia Rudolph
- A – Achtsamkeit
Grundsätzlich ist mit Achtsamkeit die Fähigkeit gemeint, Emotionen zu regulieren – auch Ängste. Jeder Mensch ist in der Lage, einen Umgang damit zu erlernen, zum Beispiel, in dem er sich mit Informationen auseinandersetzt und eine eigene Meinung bildet. Achtsamkeit hilft uns außerdem, unseren Alltag zu entschleunigen und Stress zu reduzieren. Das Bewusstsein für das Hier und Jetzt kann man durch Meditation und Trainings wie Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) stärken. Dabei lernt man, auf körperliche Empfindungen zu achten und Emotionen nur zu betrachten – nicht zu bewerten. So schafft man einen Abstand zwischen Reiz und Reaktion. Bezogen auf das Führungsverhalten bedeutet das, Entscheidungen häufiger intuitiv nach dem Bauchgefühl, statt ausschließlich sachlich zu treffen, und auf eine starke Kommunikation zu setzen, welche die Mitarbeitenden bei Veränderungen mitnimmt. Das kann auch bedeuten, nur die zweitbeste Entscheidung umzusetzen, die aber alle Beteiligte verstehen und mittragen, als die theoretisch erstbeste, die aber auf Widerstand stößt und sich folglich nicht oder nur äußerst schwer durchsetzen lässt.
- A – Adaption
Die Fähigkeit, sich anzupassen und kontextspezifisch zu denken und zu handeln, wird wichtiger, je häufiger sich die Bedingungen verändern. Wir müssen akzeptieren, dass Ungewissheit das neue Normal ist. Wir können nicht kontrollieren, was um uns herum passiert, aber unseren Umgang damit. Anpassungsfähige Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich strategisch auf Veränderungen vorbereiten und nicht nur impulsiv reagieren.
Führungskräfte können dies vorleben, indem sie viel und positiv kommunizieren, einen eher lockeren Umgang pflegen, mit Freude führen und Chancen der Veränderung betonen. Agile Methoden und eine diverse Zusammenstellung von Teams fördern die Anpassungsfähigkeit von Organisationen insgesamt. Auch im Rahmen des Recruitings gilt es bereits Talente mit einem entsprechend agilen, flexiblen und offenen Mindset anzuziehen, um langfristig erfolgreich zu sein. Stellenausschreibungen, die z.B. mit Sicherheit oder Stabilität werben, werden sehr wahrscheinlich die falschen Personen anziehen.
- T – Transparenz
Transparenz hilft, Informationen zu strukturieren, verständlicher und sinnhaltiger zu machen. Ein funktionierendes Wissensmanagement im Unternehmen kann dazu beitragen, den hohen Informationsfluss besser zu verarbeiten. Mitarbeitende erkennen dann, welche Informationen persönlich wie beruflich für sie relevant sind und Priorität haben. Wichtig ist, eine entsprechende Kultur im Unternehmen zu etablieren, durch die Mitarbeitende bereit sind, ihr Wissen überhaupt zu teilen. Also eine Abkehr vom Gebrauch von Wissen als Machtinstrument. Gleichzeitig braucht es eine Kultur, die auch Mut zur Lücke zulässt.
BANI in HR und Personalentwicklung
RAAT lässt sich in Unternehmen also auf verschiedene Weise praktisch umsetzen. Ziel ist, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das möglichst belastbar und damit widerstandfähig ist. Je flexibler (und hybrider) beispielsweise ein Modell bei der Gestaltung von Arbeitszeit und -ort ist, desto größer sind die Vorteile auf Seiten der Mitarbeitenden in Bezug auf Vereinbarkeit von Familie, Beruf und sozialem Leben. Wenn Arbeitgeber in die Work-Life-Balance ihrer Beschäftigten investieren, steigen Identifikation und Bindung der Mitarbeitenden und diese sind eher bereit, Veränderungen mitzugestalten. Gerade Flexibilitätsinstrumente wie das Homeoffice haben in der Pandemie zudem einen zentralen Beitrag zur Bewältigung dieser Krise geleistet.
Unternehmen werden noch stärker als bisher von starren und hierarchisch organisierten Strukturen abrücken müssen. In einem volatilen, unübersichtlichen und immer komplexeren Arbeits- und Marktumfeld können Entscheidungen nicht mehr nur von einzelnen wenigen Führungskräften getroffen werden. Wissensträger und SpezialistInnen unterschiedlichster Ebenen sind einzubeziehen. In diesem Zusammenhang spielen selbstorganisierte Teams eine wichtige Rolle: Sie managen Aufgaben eigenverantwortlich und treffen Entscheidungen gemeinschaftlich, für die sie ebenso gemeinschaftlich die Verantwortung übernehmen. Das vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Gemeinsam auf ein klares Ziel hinzuarbeiten, wirkt zudem sinnstiftend. Wissen und Ideen werden geteilt, Lösungen gesucht – das stärkt das „Wir-Gefühl“ und das Selbstbewusstsein. Folglich steigen die intrinsische Motivation und die Leistungsbereitschaft. Voraussetzung für Selbstorganisation ist Vertrauen von Führungskräften in Mitarbeitende, auch wenn diese im Homeoffice sitzen, sowie die Bereitschaft, Verantwortung abzugeben. Wie dies konkret aussehen kann, erfahren Sie auch in unserem Praxisbericht zu selbstorganisierten Circles im Unternehmen.
Auch regelmäßige Funktionsbereichswechsel, Job Rotation oder Auslandseinsätze sind wichtige Erfolgskriterien für die BANI-Welt.
Basis für solche Maßnahmen ist, dass Unternehmen nicht nur die notwendige technische Ausstattung bereitstellen, sondern auch eine neue Art der Kultur und Führung fördern. Neben einer schnellen, regelmäßigen und transparenten Kommunikation braucht es ein Umfeld, das sich durch eine hohe Fehlertoleranz und Lernbereitschaft auszeichnet. Und es braucht eine Kultur, die auf klaren Werten wie Empathie, Vertrauen und Wertschätzung fußt sowie einer eindeutigen Haltung, die als Vorbild dient und Orientierung bietet.
Hören und lesen Sie mehr zum Thema
Teilen