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Interview mit Lara Flemming, Führungskraft aus Leidenschaft
Braucht es Führungskräfte? Und wenn ja, wofür? Und wofür auch nicht? Was können Mitarbeiter und Teams genausogut oder besser selbst entscheiden? Wie ist es, als Führungskraft loszulassen und sein Team in ein selbstorganisiertes Netzwerk zu überführen?
Von Dominik Josten
Über wenig klagen Mitarbeiter so oft wie über Führungskräfte. Sie halten nur alles auf, haben fachlich gar nicht genug Ahnung, wollen aber immer mitreden und ernten im Erfolgsfall die Lorbeeren, obwohl den Großteil der Arbeit doch das Team gemacht hat. So lauten gängige Vorurteile und häufige Beschwerden.
Ein Modell, was als Lösung oft diskutiert wird, sich aber doch wenige Unternehmen trauen umzusetzen, sind selbstorganisierte Teams. Was das genau ist, wie es funktioniert, wie es sich als Führungskraft anfühlt und vieles mehr, davon berichtet Lara Flemming, die ihr Team jetzt seit rund 3 Jahren in die Selbstorganisation entlassen hat.
Über unseren Interview-Gast
Lara Flemming
Lara Flemming, Sr. Vice President Corporate Communication & Marketing bei EOS, ist Führungskraft aus Leidenschaft. Deshalb geht sie seit Jahren mit ihrem Bereich voran, egal ob es um Fehlerkultur, Persönlichkeitsentwicklung oder innovative Organisationsformen geht. Sie und ihr Team berichten auch regelmäßig über die Transformation der EOS hin zu "Neuen Arbeitswelten"
Dominik Josten: Hallo und herzlich willkommen zurück im HR Heute Podcast. Heute geht es um ein Thema, das viele interessant, sich aber noch relativ wenige Unternehmen trauen in der Praxis wirklich anzugehen. Es geht um selbstorganisierte Teams. Also Teams, die nicht klassisch von einer Führungskraft gesteuert werden, die Aufgaben verteilt, Entscheidungen trifft, über Urlaube entscheidet oder neue Ideen entwickelt, sondern die sich selbst organisieren. Mein heutiger Gast hat ihren eigenen Zuständigkeitsbereich als Führungskraft schon vor einigen Jahren in die Selbstständigkeit entlassen. Sie kann inzwischen auf umfangreiche Erfahrung mit dem Modell zurückblicken und wird uns heute erzählen, wie es zu dieser Entscheidung kam, wie sich der Bereich seitdem entwickelt hat, welche Herausforderungen es zu meistern gab und wem sie einen entsprechenden Schritt ebenfalls empfehlen könnte. Sie selber ist eigentlich für Kommunikation und Marketing zuständig, zeigt sich aber schon seit Jahren als Vorreiter moderner Personalführung, egal ob es um Fehlerkultur, um ungewöhnliche Entwicklungsmaßnahmen für Führungskräfte oder eben um das Thema selbstorganisierte Teams. Ich bin sehr gespannt, was sie zu berichten hat und freue mich sehr auf Lara Flemming, Senior Vice President Corporate Communications and Marketing bei EOS. Hallo Lara, herzlich willkommen.
Lara Flemming: Hallo und vielen Dank, dass ich hier sein darf.
Dominik Josten: Freut mich sehr. Es ist ja wirklich ein spannendes Thema, wir experimentieren da selber auch mit und deswegen mal die Chance zu haben mit jemandem darüber zu reden, der das schon seit vielen Jahren macht, finde ich sehr spannend. Ich glaube das ist auch für viele da draußen spannend.
Führung aus Leidenschaft
Dominik Josten: Vielleicht zum Start mal, ich habe zu Beginn gedacht, du hast ja echt eine Leidenschaft für die Themen, die sonst bei einer Personalabteilung auf der Agenda stehen sollten, Personalentwicklung, Organisation, Kultur. Woher kommt das? Wieso bist du nicht im Personalwesen oder wie bist du an diese Leidenschaft gekommen in deiner Laufbahn?
Lara Flemming: Das ist eine spannende Frage. Ehrlich gesagt habe ich mir die selbst noch gar nicht gestellt. Ich weiß gar nicht, ob man das so trennen kann. Wenn man aus dem Journalismus kommt wie ich, wenn man schon viele Führungskraft ist wie ich, dann ist es ja einer meiner wichtigsten Aufgaben, dass ich einen Rahmen für meine 25 tollen Mitarbeitenden schaffe, indem sie sich ihren Ambitionen und Talenten nach entsprechend entwickeln können und deswegen war das für mich eigentlich schon immer ein Herzensthema. Ich mag einfach Menschen, ich möchte bestmöglich versuchen meinen Mitarbeitenden den Rahmen zu schaffen, den ich gerne habe, wenn ich selbst arbeite. Ich möchte gefördert und gefordert werden, ich möchte versuchen so zu führen, wie ich gerne geführt werde. Das hört sich vielleicht banal an, aber ist viel Arbeit.
Dominik Josten: Absolut. Es ist immer ermutigend zu hören, dass es auch doch Führungskräfte gibt, die wie du aus Überzeugung irgendwo „führen“, weil ich habe den Eindruck sehr viele, den strebt es nach dem Status, Gehalt, was auch immer und denen ist gar nicht so sehr bewusst, Menschen, Teams zu führen, zu unterstützen, manchmal auch nicht im Weg zu stehen, einfach eine wahnsinnig spannende Aufgabe auch sein kann. Aber auch aus Überzeugung, nicht aus Statusgründen.
Lara Flemming: Absolut. Da ich nie eine Karriere in einem Konzern angestrebt habe, ist das vielleicht für mich leichter, diesen wirklich tollen Aspekt an meinem Job zu sehen. Ich finde das ist wirklich ein Geschenk, wenn man einen Bereich gestalten kann und dementsprechend bin ich da auch sehr aktiv.
Dominik Josten: Das habe ich mitbekommen.
Was war der Auslöser, etwas verändern zu wollen
Dominik Josten: Gestalten ist ja auch das richtige Stichwort, um direkt mal einzusteigen in unser heutiges Thema, das Thema selbstorganisierte Teams. Lass uns doch erstmal chronologisch zurückgehen in die Zeit, an der du vielleicht an dem Punkt warst, wo vielleicht manche Zuhörer sind, bei dem Gefühl „irgendwie müssen wir was ändern. So wie jetzt holen wir nicht das Beste aus uns raus oder stehen uns selbst im Weg“. Irgendwo hat man ja eine Motivation etwas zu ändern. Kannst du uns da mal ein bisschen abholen, wie war das damals und wie kamst du darauf, dass die Lösung die Selbstorganisation des eigenen Teams war?
Du hast das ja nicht auf Rat von anderen gemacht, sondern du hast es quasi selbst gemacht und sich selbst zu „entmachten“ ist ja keine Maßnahme, die jetzt die allermeisten Führungskräfte so in Erwägung ziehen würden. Wie kam das bei dir?
Lara Flemming: Sich selbst zu „entmachten“, wenn wir darüber jetzt sprechen, das ist eher eine philosophische Frage, also sollten wir darauf vielleicht nicht so eingehen. Ich hatte ganz klare Gründe, warum ich das Gefühl hatte „wir kommen in der Struktur, in der wir gearbeitet haben, eine klassische hierarchische Struktur, wie man sie aus jedem Organigramm im Konzern kennt, nicht weiter“. Das war bei mir natürlich so. Ich glaube aktuell stehen alle vor den Herausforderungen der Arbeits- und Wirtschaftswelt. Genauso wie alle anderen haben wir gemerkt „die Welt digitalisiert sich“. Für mein Feld, für meinen Beruf hat das bedeutet, Kommunikation und auch das Thema Markenführung, das sind beides Themen, die ich meinem Bereich betreue, haben sich in den letzten 10, 15 Jahren so massiv verändert, dass die Anforderungen extern, aber auch intern, nämlich „was erwarten aktuell Mitarbeitende der aktuellen Generation, der neuen jungen Generation von einem Arbeitgeber und von einem Job?“
All das ist wahnsinnig in der Veränderung begriffen. Für mich war der Schritt mich zu verändern, kein Selbstzweck, sondern ich hatte ganz klar Gründe und um nur einige zu nennen, die für alle offensichtlich sind: Bei der Kommunikation muss man sagen, während wir früher bei der Unternehmenskommunikation noch die einzigen Sender von Informationen über unser Unternehmen waren, hat sich das natürlich in den letzten zehn Jahren, spätestens seit der Einführung des Smartphones, massiv geändert. Wir sind lange nicht mehr abhängig von den Gatekeepern, wir können direkt mit unseren Ziel- und Anspruchsgruppen sprechen. Sie erwarten auch, dass wir direkt mit ihnen sprechen und das über immer mehr Kanäle, direkt, hochtechnologisiert und es verändert sich auch, was unsere Zielgruppen interessiert an einem Unternehmen.
Während es früher vielleicht ausgereicht hat, zu erklären, was man eigentlich macht und wie erfolgreich man damit ist, interessiert die Leute da draußen heute viel mehr „was für eine Einstellung hat eigentlich so ein Unternehmen auch zu gesellschaftspolitischen Fragen? Was für Menschen arbeiten dort? Was ist da der CEO für ein Typ? Was machen die?“ und das möchte ich möglichst auch auf eine unterhaltsame, spaßmachende Art präsentiert bekommen. All diese Anforderungen von außen an unser Arbeitsfeld haben dazu geführt, dass wir gesagt haben „wir sind viel zu langsam, wir haben viel mehr ausdifferenzierte Expertise im Bereich“, wenn ich jemals dem Glauben aufgesessen bin, dass ich die beste in Themen von Kommunikation und Markenführung bin, wäre natürlich auch damals schon Quatsch gewesen, aber heute ist es das umso mehr, dann ist es das heute absolut nicht mehr.
Ich brauche Experten, die in der Regel ein höheres Expertenwissen in ihrem Gebiet, in ihren Kanälen, in ihrem Fachbereich haben als ich das tue und „warum“, haben wir uns gefragt „muss ich die letzte entscheidende Instanz sein, die das ganze System verlangsamt?“. Das heißt wir mussten schneller werden. Wir haben auch eine höhere Ausdifferenzierung in der Expertise. Wir haben mehr Kanäle, die wir bedienen. Wir sind technisierter geworden. Dementsprechend ist das alte System überholt. Wir sind zu langsam und tatsächlich habe ich so tolle Experten, dass es keinen wirklichen Grund, außer den des Statusses, den du erwähnt hattest, gibt, dass ich immer das bottleneck sein muss für Entscheidung fachlicher Natur.
Gleichzeitig habe ich gesagt, Mitarbeitende erwarten auch anders zu arbeiten als noch vor wenigen Jahren, sich selbst weiterentwickeln zu können, eine höhere Flexibilität zu haben, auch stärker mitgestalten zu können. Das erlebe ich total stark und ich glaube auch, das ist absolut zum Besten der Qualität in den Produkten in einem Bereich wie meiner es ist. So kam es, dass wir gesagt haben „lass mal schauen, wie wir uns aufstellen können, um diesen ganzen externen und internen Anforderungen zu begegnen“.
Die Reaktionen auf die Idee Selbstorganisation
Dominik Josten: Dann ist die Idee aufgekommen, dich aus dem Prozess mehr rauszunehmen und mehr in eine Selbstorganisation des Teams zu wechseln. Wie wurde das aufgenommen von deinen eigenen Chefs, oder vom CEO evtl. dann oder vom Betriebsrat oder eben auch von dem Team? Als du auf sie zugekommen bist und gesagt hast „was haltet ihr davon, ihr organisiert euch zukünftig selbst?“ oder war das ein schleichender Prozess? Wie muss man sich das vorstellen?
Lara Flemming: Da hast du ganz viele Aspekte angesprochen. Zum einen hilft es total sehr früh mit relevanten Institutionen im Unternehmen zu sprechen, z. B. dem Betriebsrat, aber natürlich auch meinem Chef, ich bin dem CEO unterstellt, zu erklären, was wir vorhaben und warum wir das vorhaben und ich muss sagen, in meinem Unternehmen bin ich überall auf sehr offene Ohren gestoßen. Vor allen Dingen auch in meinem Bereich. Das ist das wichtigste.
Ich habe zuerst mit meinem Team gesprochen „was haltet ihr davon, wenn wir uns umbauen zu einer Netzwerkstruktur?“, das ist ja unsere Struktur aktuell, dass wir diese Hierarchien und die alten Disziplinen wie interne und externe Kommunikation, klassisches Marketing, e-Marketing usw. aufgelöst haben „und was haltet ihr davon, wenn wir neue fachliche Cluster bilden und dann selbstorganisiert unsere Themen vorantreiben?“. So habe ich das erstmal dort vorgestellt und erst als das Team gesagt hat „das probieren wir mal aus“, bin ich zu den anderen gegangen, sowohl zu meinem Chef, als auch zum Betriebsrat, die natürlich schauen müssen „ist das im Sinne der Arbeitnehmenden?“ und dann haben wir quasi losgelegt.
Dominik Josten: D.h. es war erstmal positiv aufgenommen und wie seid ihr dann konkret vorgegangen?
Lara Flemming: Ich habe erstmal eine Netzwerkstruktur vorgestellt, die meine Führungskräfte und ich im besten Wissen und Gewissen gebaut haben und das tatsächlich, wir haben von Anfang an gesagt „das hier ist ein MVP, ein minimum viable product, eine better Version, wir wissen noch nicht, ob dies das Ende der Fahnenstange ist, sondern das ist ein Versuch. Lasst uns ein Jahr probieren, das Ding zum Fliegen zu bringen und wenn wir am Ende des Jahres feststellen „super“, machen wir so weiter und wenn wir feststellen „das war es noch nicht ganz“, dann gucken wir mal, wie wir nach rechts oder links abbiegen können oder vielleicht auch ein Schritt zurückgehen, wenn es nicht funktioniert“.
Ich glaube dieser Schritt und diese Aussage war maßgeblich dafür, dass mein Team wirklich gesagt hat „das machen wir, wir vertrauen einander“ und so haben die sich mit einer ungeheuren Energie reingestürzt, weil wir auch nämlich gesagt haben „passt auf, schaut selbst in den Themenclustern, die wir gebildet haben, dass ihr Prozesse entwickelt, wie ihr euch abstimmen wollt, wie ihr Themen finden wollt, wir ihr entscheiden wollt, nehmt euch dazu Coaches, macht Workshop, nehmt euch die Zeit und baut mal los“ und ich muss ganz ehrlich sagen, ich hätte in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht, wie sich mein Team darein gestürzt hat, diese neue Arbeitsform zu entwickeln, diese neue Form der Kollaboration.
Das war für mich wirklich fantastisch zu erleben, welche Energie da freigesetzt wurde. Um das nochmal klarzuziehen, die wirkliche Neuerung war ja „liebe Leute, die fachliche Führung geben wir ab sofort ins Team. Jeder einzelne im Team entscheidet fachlich selbst und braucht dafür nicht mehr die Führungskräfte oder mich“. Das war sozusagen das, was du als „Machtabgabe“ genannt hast, fand ich als guten Clou, weil wir haben ja die tollen Experten, die in den meisten Fällen, wenn nicht ähnliche, dann sogar bessere Entscheidungen treffen und die wenigen, die sie vielleicht nicht so gut treffen, mache ich ja auch. Dieser Vertrauensvorschuss, den wir da gegeben haben, ist unheimlich positiv aufgenommen worden. Deswegen hat man sich da wirklich reingestürzt und Prozesse, Abstimmungswege usw. entwickelt.
Dominik Josten: Wie weit geht diese Selbstorganisation? Mit den fachlichen Entscheidungen meinst du was jetzt gepostet wird oder in welche Kampagne wie viel Geld auch fließt oder wie weit geht das?
Lara Flemming: Im Rahmen des Budgets, das den Teams zur Verfügung gestellt wird, können die Teams auch selbst bestimmen, absolut. Es ist so, dass wir einen ganzen content-Kreislauf aufgebaut haben von der Themenfindung in content strategy zum content desk, wo die Themen in die verschiedenen Kanäle gegeben werden, sozusagen zielgruppengerecht hin zur Analyse „was ist erfolgreich, was lesen die Leute gern, was hören sie gern?“, dann zum Controlling und wieder zur Themenfindung. Wir haben so einen content-Kreislauf gebildet in verschiedenen Clustern und diese Abstimmung, dieses Netzwerk untereinander, sollte anfangen ineinander zu arbeiten.
Die Grenzen der Selbstorganisation
Dominik Josten: Wo ist die Grenze? Welche Befugnisse oder Verantwortlichkeiten sind noch bei dir als disziplinarische Führungskraft geblieben? Wie ist das z. B. bei einer Besetzung einer neuen Stelle im Team oder auch Leistungsbeurteilungen, Gehaltsanpassungen? Wird da auch drüber abgestimmt oder machst du das noch? Wie läuft das?
Lara Flemming: Ich habe noch ein Führungsteam und ich. Was in unserer Führung liegt ist das Thema Menschenführung, Strategie und die Prozesse verteilen wir gerade auch im Team. Das Thema fachliche Verantwortung liegt im Team. Es ist aber durchaus so, dass alle Prozesse im Bereich berührt sind inzwischen von der Veränderung der Struktur. Ich habe erst gesagt, ich war total begeistert, welche Energie freigesetzt wurde und wie wahnsinnig das Team mitgearbeitet hat, um das minimum viable product zum Fliegen zu bringen, aber natürlich hatten wir auch blitzschnell die ersten großen Probleme. Eines der ersten großen Probleme, die haben übrigens alle immer mit Führung zu tun, das ist sehr interessant, die haben mit Klarheit der Rollen zu tun, mit Definition von „was heißt Verantwortung? Was macht das System selbst? Was muss die Führung leisten?“. Das ist immer die gleiche Gemengelage, wo wir Probleme haben und immer kommt es darauf an, dass da keine Klarheit ist oder neu definiert werden muss.
Dominik Josten: Also Klarheit meinst du im Sinne von ob sie das selbst machen dürfen oder dann doch fragen oder was für Klarheit meinst du jetzt?
Lara Flemming: Klarheit darüber „was ist meine Rolle in diesem System?“ und „was ist meine Aufgabe und was ist sie nicht? Was muss ich an Themen selbst angehen als System und was ist immer noch klare Führungsaufgabe?“. Du hast eben auch Entwicklungs- und Leistungsbewertung angesprochen, das war gleich das allererste Problem, was meine Führungskräfte ganz stark hatten, dass sie gesagt haben „ich bin nicht mehr die fachliche Führungskraft, wie soll ich denn bewerten, was jemand fachlich leistet? Ich kann zwar beobachten, ich kann schauen und das erlebe ich ja auch in meinen 1-to-1, aber die fachliche Beurteilung fällt mir jetzt schwerer, weil das liegt ja im Team.“. So haben wir das ganze System Entwicklungsgespräche, da haben wir auch einen Pilot gemacht als Firma, für HR sozusagen, inzwischen ist der Prozess insgesamt so aufgesetzt, dass man sowohl als disziplinarische Führungskraft im Entwicklungsgespräch Meinungen abgibt, aber auch siteview-Geber. Das sind fachliche Kollegen, die sozusagen von rechts und links schauen, jeweils zwei in der Regel, wie die Person performt hat und dann auch Feedback geben. Das ist verschriftlicht, wir haben da eine Liste an Kompetenzen, die man bewerten und befüllen soll und so werden dann das Feedback der fachlichen Kollegen gemeinsam mit der disziplinarischen Führung, die dann auch ein Abgleich an die Erwartung an das Stellenprofil macht, zusammengeführt und es gibt auch noch eine Selbsteinschätzung. So haben wir sozusagen das Thema Leistungsbeurteilung neu aufgesetzt und es kommen eigentlich täglich neue Themen hinzu, die wir neu aufsetzen müssen, weil die alten Instrumente oft ausgedient haben.
Wie funktioniert Aufgaben- und Rollenverteilung im Team?
Dominik Josten: Ich habe noch eine Frage zu der Aufgabenverteilung. Du hast am Anfang nach bestem Wissen und Gewissen eine Netzwerkstruktur vorgeschlagen. Oft ist es ja so, dass Mitarbeiter irgendwie sagen, dass sie drei Jahre social Media Betreuung gemacht haben, irgendwie würden sie gerne was anderes machen, Blogartikel schreiben etc., mehr Inhaltsarbeit, einen Podcast, wie hat sich das Netzwerk weiterentwickelt und war das eher eins, wo das Team abgestimmt hat oder sich untereinander geeinigt hat, „wechsele du doch mal die Position und mach du doch mal social media“ oder ist das etwas, was ihr als Führungskräfte entscheidet? Wie organisiert ihr euch da?
Lara Flemming: Im besten Fall macht es das Team selbst. Wir haben viele Routinen, wie die Betreuung verschiedener Kanäle, aber natürlich kann man sich da heraus entwickeln und auch sagen „ich habe das so und so lange gemacht, jetzt möchte ich gerne mal den Geschäftsbericht betreuen. Ich glaube das liegt auch in meiner Kompetenz, weil so und so und deswegen nominiere ich mich mal dafür, wie sieht es eigentlich aus?“ und dann wird es ausgehandelt. Tatsächlich habe ich tollerweise Mitarbeitende, die alle eigentlich immer Lust haben etwas anderes zu machen und sich weiterzuentwickeln, sodass das meistens eigentlich gut hinhaut.
Dominik Josten: Du hast eben schon gesagt, „Machtabgabe“ ist das falsche Wort, aber auch wenn man die fachliche Entscheidung abgibt, wie fühlte sich das für dich oder auch für deine Führungskräfte an?
War es schwer als Führungskraft loszulassen?
Dominik Josten: War das schwer hier und da loszulassen, vielleicht mitzubekommen, dass Entscheidungen auch getroffen werden, die man vielleicht falsch findet oder in eine andere Richtung als man sich das vielleicht selber als Vision vorgestellt hat?
Lara Flemming: Das kommt natürlich vor. Ein „command and control“ System ist ja auch einfacher. Es geht schneller oft, man muss sich auch nicht so viele Gedanken darüber machen „wie ist ein Prozess der Entscheidung zu fällen?“, was viele verwechseln, ist, dass eine Netzwerkstruktur mit der Fachverantwortung im Team bedeutet, dass man nicht plötzlich basisdemokratisch ist. Aber genau diese Grenzen neu zu stecken und zu sehen „was ist ein partizipativer Prozess und wo nehme ich mir als Führungskraft genauso meine Expertise, wie das der Fachverantwortliche tut und entscheide einfach“.
Das muss immer wieder neu gecheckt und geprüft werden, „wo ist was gefragt? Wo haben wir einen Prozess, wo alle mit dabei sind? Wo kann ich entscheiden?“. In der Regel haben wir das grob festgelegt. Das Team kann nicht die Strategie einfach verändern. Das machen wir gemeinsam, dass wir die Strategie festlegen und auch die Vision, die kommt in der Regel von mir und meinem Führungsteam und überall, wo da massive Eingriffe sind, können meine Mitarbeitenden nicht einfach handeln, sondern dann muss es in die Diskussion gehen „wir gehen hier in die falsche Richtung, besser wäre das und das“. Aber tatsächlich muss man immer wieder überprüfen, wo verlaufen die Grenzen?
Rückblick auf die ersten Jahre
Dominik Josten: Wir haben jetzt viel über die Anfangsphase geredet und auch zwischendurch. Wenn man jetzt mal einen Zeitsprung macht, 2018 habt ihr angefangen oder?
Lara Flemming: Ende 2018. So verdammt lange ist es noch gar nicht.
Dominik Josten: Es sind ja schon drei Jahre bald, also in typischen Mitarbeiterzyklen, wenn es einmal im Jahr eine Gehaltsrunde gibt usw., es ist ja schon eine gewisse Phase. Wenn du jetzt mal zurückblickst, was hat sich bewährt, was weniger, wo habt ihr nachjustiert – ein paar Beispiele hast du ja gerade schon genannt – wer darf etwas, wie viel Selbstverantwortung ist jetzt gut etc. Wie würdest du dein Zwischenfazit nach den ersten drei Jahren machen?
Lara Flemming: Ich bin immer noch davon überzeugt, dass es ein total richtiger Schritt war. Ich glaube, dass wir ganz viele Vorteile und zwar viel mehr als Nachteile, nämlich, dass es oft auch anstrengend ist und solche Sachen, für uns auf der Pro-Seite verbuchen können. Ich glaube die Qualität der Arbeit verbessert sich, die Geschwindigkeit verbessert sich, die Möglichkeit sich zu entwickeln für meine Mitarbeitenden hat sich nochmal stark verbessert. Ich glaube das ist der Weg in einer komplexen Welt zu führen über kurz oder lang. Ich glaube, dass das alte Modell, das funktioniert auch in vielen Situationen gut, „new work“ ist ja kein Selbstzweck.
Das muss man auch nur dann machen, wenn man das Gefühl hat „wir haben Gründe, unsere Arbeitsweise zu ändern“. Wir hatten die und von daher bin ich nach wie vor überzeugt. Das heißt aber lange nicht, dass es ein Spaziergang ist. Es ist auch schwierig. Für mich war ein ganz wichtiger Schritt, dass wir festgestellt haben, wenn wir von unseren Mitarbeitenden erwarten, dass sie ihre Arbeit selbst priorisieren und ihre Kapazitäten auch selbst einteilen, was wir früher gemacht haben, wir haben die Projekte und Aufgaben verteilt und dementsprechend hatten wir da auch das Auge drauf. Wir haben da festgestellt, es reicht nicht mehr unsere Ziele einmal im Jahr zu verkünden und dann laufen die Leute los. Wir brauchten also eine viel engmaschigere Zielführung, damit unsere Mitarbeitenden in die Lage versetzt werden überhaupt zu priorisieren und zu wissen „was ist jetzt wichtig und was ist vielleicht später wichtig oder auch gar nicht wichtig“.
Das war ein riesen Wechsel und wir haben das Tool, was in vieler Munde ist und aus der IT kommt, okr, eingeführt, objectives and key results, um tatsächlich unsere Ziele viel engmaschiger vor Augen zu haben und so auch die Aufgaben zu machen, die wichtig sind. Das war für uns ein Meilenstein und ich gebe aber auch zu, wir machen das seit zwei Jahren, und es ist immer noch schwierig aus verschiedenen Gründen. Zum einen, wir waren immer schon sehr leistungsorientiert bei mir im Team und hatten Lust an tollen Ergebnissen unserer Arbeit. Ich hoffe das zählt für die meisten Bereiche, aber bei mir war das auch so. Aber wir waren eine tolle Aufgabenerledigungstruppe, wir hatten einen bunten Blumenstrauß an Maßnahmen und Aktivitäten im Bereich Kommunikation und Marketing und die haben wir alle immer perfekt gemacht. Mit okr ist ein Paradigmenwechsel sozusagen eingetreten, ein Haltungswechsel. Wir gucken nicht mehr, dass wir die Sachen richtig machen, sondern wir gucken, dass wir die richtigen Sachen machen. Das bedeutet, dass wir die Aufgaben, die wir haben und die wir als Aufgabenerledigungstruppe immer wunderbar erledigt haben, jetzt tatsächlich auch auf den Prüfstand stellen. Sind denn die Maßnahmen noch die richtigen? Ist ein Geschäftsbericht in der Zahlenkommunikation das Mittel der Wahl oder nicht? Lass uns mal schauen, was eigentlich unsere Zielzustände sind, die wir erreichen wollen. Das führt dazu, dass das Team wahnsinnig reift. Es guckt strategischer und zielorientierter auf Themen und ich glaube das macht jeden einzelnen in meinem Bereich auch besser. Aber das ist auch schwer.
Dominik Josten: Es ist ja sehr spannend. Ich habe mich gerade gefragt, als du sagtest „das Richtige tun“, das ist ja sonst auch der schwarze Peter, den die Führungskraft vielleicht sonst hat, der oder die Böse zu sein, die dann sagt „das machen wir jetzt nicht mehr zukünftig“.
Konfliktpotential Entscheidungen?
Dominik Josten: Wenn aber das Team da ist, stelle ich mir vor, dass es schon auch direktere Konflikte geben könnte? Wenn Teile des Teams sagen „Facebook-Postings, das geht unter, da erreichen wir nichts mehr mit, wir können keine Klickzahlen erkennen, wir müssen jetzt mehr auf YouTube oder Instagram“, wo man vorher den schwarzen Peter der Führungskraft zuschieben konnte, die das entschieden hat und dann war die schuld, muss man sich ja jetzt quasi miteinander ein bisschen überzeugen, dass der Job des anderen, der vielleicht gerade für Facebook-Kommunikation zuständig ist, eigentlich nicht mehr der richtige ist.
Lara Flemming: Man glaubt sich selbst am meisten. Wenn die Führungskraft etwas sagt, ist das ja nicht unbedingt immer das Beste. Wenn aber meine Kollegen sagen „guck mal hier“, wir sind ja heute datengetrieben und können das schön analysieren, ob wir Erfolg haben oder nicht, das ist ja weniger Bauch als jemals zuvor, kann man sehr gut sachorientiert argumentieren. Das hilft im Team. Dieses „der am lautesten ist, gewinnt“, das ist nicht mehr so. Ich glaube auch, dass sich die Führungskraft von morgen verändern wird. Das ist nicht immer derjenige, der politisch am klügsten agiert oder am lautesten ist und am besten gewinnen kann, sondern es ist ein bisschen leiser geworden und sachorientierter. Wir können besser auf Ergebnisse schauen und die vergleichen und dementsprechend uns mehr anfreunden damit Sachen zu machen oder auch zu lassen. Du hast schon Recht, wir haben alle unsere Aufgaben wahnsinnig lieb. Wir finden toll, was wir machen und deswegen ist es manchmal auch echt schmerzhaft zu sagen „das hier ist ein totes Pferd, lass uns absteigen“, aber durch diese neuen Instrumente und auch durch die Selbstorganisation, kann man das vielleicht leichter.
Dominik Josten: Ich mache gerne mal die Vergleiche zwischen einer Führungskraft und dem Coach bei einer Sportart, egal ob Fußball, der auch nicht unbedingt der beste Fußballer oder Spieler sein muss, sondern oft das zusammenhalten muss und evtl. am Ende die Entscheidung treffen muss bei begrenztem Budget oder bei begrenzter Zahl, die mitspielen dürfen, „welche elf dürfen spielen“ oder „welche X Projekte werden gemacht?“ und da stelle ich mir für ein Mannschaftsgefüge eine Herausforderung vor, wenn man am Ende irgendwo zwangsabstimmen muss, welcher von euch elf, nicht Menschen, aber vielleicht Projekten, was vielleicht dann gleichbedeutend ist mit Spezialitäten der Leute, wird umgesetzt und welche nicht? Kann ich mir schon auch schwierig vorstellen. Da hast du gesagt, die Sachebene kann viel helfen, wenn man das mit Zahlen begründen kann, warum jetzt Kanal XY nichts mehr bringt, ist okay, aber schwieriger ist es bei so Sachen „die Art, wie du formulierst, ist nicht mehr so cool“, wie misst man so etwas? Das ist bei Kommunikation vermutlich auch öfters mal ein Thema gewesen, oder?
Lara Flemming: Absolut. Kommunikation ist sowieso alles, aber da gibt es ja auch unterschiedliche Meinungen. Wir versuchen dem Ganzen einen Rahmen zu geben. Unsere Mission, unser Leitsatz bei mir im Bereich, das ist sehr individuell, ist „wir erzählen die Marke EOS, we talk the brand“ und das hat ja zwei Stränge. Im Mittelpunkt steht die Marke. Alles was wir tun, tun wir deshalb, um die Marke in einer bestimmten Art und Weise unseren verschiedenen Anspruchsgruppen zu präsentieren. Und wie wir das machen? Wir erzählen Geschichten. Da haben wir aber ein sehr klares Gefüge von corporate identity. Wir haben corporate language, wir haben die Optik sehr stark festgelegt. Hier ist bis zu einem gewissen Grad Messbarkeit möglich. Entspricht das noch dem? Und zum zweiten gibt uns der Erfolg, oder auch der Misserfolg bei unseren Anspruchsgruppen Recht oder Unrecht. Dann kann man wieder schauen „woran hat es gelegen?“, tatsächlich der Analyseteil in meiner Aufgabe ist in den letzten Jahren massiv gestiegen.
Dominik Josten: Du bist schon der Schlichter?
Lara Flemming: Das kann auf jeden Fall sein. Ich habe auch eine starke Meinung und es gibt viele Dinge, die ich anders machen würde. Das fällt mir persönlich nicht immer leicht. Aber am Ende des Tages muss ich auch sagen „wird das Produkt besser oder schlechter, wenn ich da nochmal ein A oder E verändere?“ und in fast allen Fällen ist es nicht unbedingt der Fall und in den wenigen Fällen, wo ich das Gefühl habe „doch, aus Gründen möchte ich so oder so herum“, haben wir noch nie Schwierigkeiten gehabt. Vielleicht liegt es daran, dass wir noch aus so einer alten hierarchischen Historie kommen, aber ich habe eigentlich sehr selbstbewusste, kluge Menschen bei mir im Team, denen ich mich dann vermitteln muss, ist ja klar.
Dominik Josten: Das kenne ich auch bei uns. Diese Frage „wird es noch besser oder wird es nur noch anders?“.
Lara Flemming: Ja, genau oder „wird es meinem Geschmack eher zuträglich?“.
Dominik Josten: Genau, oder „ist das überhaupt der gleiche der Kunden draußen?“.
Lara Flemming: Die müssen am Ende ja auch messen.
Dominik Josten: Habe ich dann alle Posts, so wie ich sie gerne hätte oder erreicht man vielleicht auch eine Bandbreite draußen, die unterschiedlicher ticken als ich.
Lara Flemming: Ganz genau, gerade bei so Berufen, wie wir sie haben, ich liebe Sprache, ich liebe tolle Texte, genauso wie ich einen gewissen Anspruch an Ästhetik habe. Wir wissen es ja, „ist es mein persönliches Ego, was da spricht oder ist es wirklich sinnvoll?“ und da muss man auch lernen sich als Führungskraft zu verändern. Es hat sich schon echt stark geändert. Aber, um vielleicht nochmal zu dem „am Ende habe ich noch mehr Gewicht mit dem, was ich sage“ zu kommen, da ich mit meinem Bereich in dieser Struktur noch in einer Umgebung arbeite, die mehrheitlich hierarchisch geprägt ist, mein Unternehmen hat sich ja nicht komplett umgestellt, sondern wir sind eine Art Pilotprojekt, man kann auch sagen Laborratten, die ausprobieren, aber das zu einer Freude von vielen, weil wir ja voneinander lernen wollen. Wir sind ja eine lernende Organisation, aber am Ende bin ich komplett verantwortlich. Soweit ist die Struktur noch nicht geändert bei uns.
Dominik Josten: D. h. beim Führungsstrategiemeeting bist schon immer noch du da und nicht ein gewählter Abgesandter des Teams?
Lara Flemming: Ganz genau. Aber bei größeren Projekten nehme ich immer die Fachverantwortlichen mit. Ich gehe da nie alleine hin, weil ich a) zeigen möchte, dass es ein Team ist, was diese Leistung erbringt und b) im Zweifel hat der Experte nochmal einen ganz anderen deep dive als ich und kann spezielle Fragen vielleicht sogar besser beantworten und dann finde ich das blöd, wenn ich versuche mich aufzuschlauen und so zu tun, als ob ich der Experte bin.
Dominik Josten: Das bringt es meistens nichts. Mit einem Blick auf die Uhr sehe ich, wie die Zeit schon wieder rast und deswegen, man könnte sich glaube ich noch ewig über die Erfahrungen austauschen und ich denke wir laden auch dazu ein, wer das möchte, vielleicht auch auf HR-Heute, dass man sich darüber austauscht, kommuniziert, Erfahrungsaustausch betreiben kann.
Für wen ist Selbstorganisation eine Option?
Dominik Josten: Ich würde eins noch fragen aus deinem Fazit, wenn du jetzt von anderen gefragt werden würdest. Klar, du bist überzeugt, bei euch hat das funktioniert, aber auch erstmal nur bei euch im Team. Kannst du irgendwie so für dich sagen, welchen Teams oder unter welchen Voraussetzungen andere sich das angucken könnten als Unternehmen? Gibt es vielleicht auch Warnsignale, wo du sagst „wir hatten da mal ein, zwei Mitarbeiter, die sind da gar nicht mit klargekommen, die sind jetzt inzwischen vielleicht auch weg“ und „wenn ihr nur solche habt, dann versucht es lieber nicht“. Kannst du es irgendwo dran festmachen? Braucht es vor allem ein Team von sehr erfahrenen Leuten, die selbstständig arbeiten können? Kannst du das beurteilen?
Lara Flemming: Wenn es Gründe gibt sich zu verändern, es ist ja kein Selbstzweck, aber ich glaube die wichtigste Frage, die man sich stellen und ehrlich beantworten muss „haben wir hier eine Vertrauenskultur?“ oder „arbeiten wir doch eher im command and control Stil“, eher in einer Misstrauenskultur, auch wenn das vielleicht negativer klingt als es in vielen Teilen ist. Um das zu machen, muss man wirklich loslassen können. Man muss vertrauen, sonst wird es nicht funktionieren. Dann wird das System sofort bei den ersten Zuwiderhandlungen ad absurdum geführt und das verunsichert das ganze Team und bringt ganz bestimmt nicht das Ergebnis. Von daher geht es nicht darum „wie sind meine Leute im Team, sondern wie bin ich?“, weil das wird maßgeblich dafür sein, ob es erfolgreich wird oder nicht.
Dominik Josten: Es braucht ja im Prinzip auch Mitarbeiter, die überhaupt diese Verantwortung übernehmen wollen. Verantwortung ist ja auch eine Last für manche.
Lara Flemming: Absolut, da hast du recht. Das höre ich ganz oft „meine Mitarbeitenden wollen gar keine Verantwortung übernehmen“, ich wage das zu challengen.
Dominik Josten: Ich glaube das auch nicht. Ich erlebe schon „es gibt solche und solche“. Es gibt viele Menschen, die das total lieben und auch mögen und andere, die es belastet, wenn sie das Gefühl haben, sie entscheiden vielleicht falsch.
Lara Flemming: Ich glaube das ist wirklich auch eine Definitionssache. Ich glaube jeder möchte Verantwortung, weil wir sind ja alle erwachsene Menschen und wir führen ein eigenständiges Leben, wir bauen Häuser, wir kriegen Kinder, die machen eine Ausbildung, ich verreise, ich schließe Versicherungen ab. Warum sollte ich plötzlich in meinem Beruf, den ich gelernt habe, nicht in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen? Ich bin ein mündiger Bürger und ich möchte auch so behandelt werden.
Dominik Josten: In der Lage bestimmt, aber man fühlt sich ja auch schlechter, wenn man etwas Falsches entschieden hat, als wenn man quasi nur umgesetzt hat, was jemand anderes gesagt hat.
Lara Flemming: Das wiederum hängt von der Kultur ab, in der man unterwegs ist. Fehlerkultur ist ein ganz wichtiges Stichwort, wir wollen ja eine lernende Kultur. Wir entwickeln uns auch gerade von einer Aufgabenerledigungstruppe zur lernenden Organisation uns das bedeutet aber auch, wie wir mit Fehlern umgehen. Gut, dass du das erwähnst, weil das ein ganz wesentliches Merkmal einer erfolgreichen Selbstorganisation ist, eine positive Fehlerkultur, d. h. nicht, dass sich einer immer den gleichen Fehler erlauben kann und bis ans Lebensende das sozusagen macht, aber diese Fehlertoleranz will man ja nirgendwo. Um weiter zu kommen, werden natürlich Fehler passieren und daraus zu lernen, dafür schafft diese Form von Netzwerkstruktur, wie wir sie haben, beste Voraussetzungen.
Man fällt auch weich, weil – das ist ganz interessant, dass du mich da unterbrochen hast – das Zweite, was ich sagen wollte, was es braucht, um das auszuprobieren, ist eben auch Mut. Man muss auch mutig sein und sagen „wir müssen justieren“, wir haben schon zig Mal justiert und wir haben immer noch nicht die perfekte Form, wahrscheinlich wird es die auch nicht geben und Veränderung wird einfach ein Teil unseres Tagesgeschäftes bleiben, weil sich die Welt außen verändert und zwar viel schneller als je zuvor und wir uns auch als Menschen, als Gruppe verändern. Wir sind ja nicht homogen. Da sagst du ja „was für eine Art von Mitarbeitenden braucht es?“, man muss Lust haben, Verantwortung zu übernehmen, aber irgendwie unterstelle ich jedem, er hat auch Lust in seinem Fachgebiet selbst zu unterscheiden und nicht erst zu Lara zu laufen und zu fragen, ob er das darf. Ich habe das Gefühl, wenn ich Verantwortung bekomme, dass ich nochmal ganz anders an ein Thema rangehe. Wenn ich gefühlt den Eindruck habe „das ist meins“ und „da ist nicht noch die Lara, die nochmal ja, nein oder eventuell sagt“, ich habe da nochmal einen anderen Anspruch an meine Arbeit und auch eine andere Freude an dem Erfolg, weil auf jeden Fall feiern wir mehr Erfolge als Misserfolge.
Dominik Josten: Das ja sowieso. Die Erfolge sind ja immer schöner, wenn man selbst dafür verantwortlich war, das ist klar.
Schlussfazit
Dominik Josten: Du, Lara, ich glaube über das Thema Fehlerkultur könnte man separat nochmal sprechen.
Lara Flemming: Das ist auch ein andauerndes Thema.
Dominik Josten: Absolut. Lass uns an der Stelle an den Erfahrungsbericht einen Haken machen, ich glaube das war schon sehr spannend und erhellend für alle, die vielleicht darüber nachdenken, dass sie sich auch klarmachen „das ist eine Reise“ und kein kurzes Projekt, was man kurz entschieden hat und dann ist es gut. Das ist ein permanentes Nachjustieren und Erfahrung sammeln und wieder anders machen. Ich glaube das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, die ich daraus mitgenommen habe und vielleicht magst du noch dein Schlussfazit ziehen. Dann haben wir spannende Sachen erzählt.
Lara Flemming: Vielen Dank auch nochmal, dass du mich eingeladen hast. Vielleicht ist mein Fazit einfach, ich glaube die Reise lohnt sich für alle Beteiligten, weil ich schaue als Führungskraft ja auf den Bereich als Ganzes und ich glaube, dass tatsächlich die Mehrheit der Menschen in meinem Bereich, jetzt müssten wir die natürlich selbst fragen, viel mehr gewinnt als verliert durch diese Reise. D. h. aber nicht, dass es nicht anstrengend ist. Es ist mega anstrengend und jeden Tag kommen neue Fragen und man muss sich als Führungskraft auch eingestehen „ich mache das auch das erste Mal“, man ist also viel angreifbarer und macht viel mehr Fehler und da muss natürlich auch Toleranz im Team da sein. Dann aber glaube ich, wenn dieses Vertrauensverhältnis, wenn dieser Großmut miteinander herrscht, ist es eine tolle Reise, auf der man wahnsinnig viel lernt.
Dominik Josten: Ich glaube das ist ein wunderbares Schlusswort. Ich danke dir ganz herzlich für die Einblicke und die offene Erzählung und den Erfahrungsschatz, den du hier mit uns geteilt hast und ich hoffe wir hören uns nochmal zu einem anderen Thema, wie z. B. Fehlerkultur, wieder.
Lara Flemming: Ich bin gerne wieder dabei, es macht Spaß. Ich rede mich gerade erst warm.
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